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Thailändische Textilarbeiter erhalten nach Entlassung Rekordabfindung

Entlassen, betrogen – aber nicht geknickt: Textilarbeiter erkämpften Millionenabfindung

Ihre Firma verriegelte über Nacht die Türen und meldete Konkurs an. Doch dann nahmen die rund 1400 entlassenen thailändischen Textilarbeiterinnen ihr Schicksal selbst in die Hände. Jetzt erhalten sie eine Rekordabfindung – und gelten als Vorkämpferinnen einer ganzen Branche.
31.05.2022, 14:3231.05.2022, 17:34
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Am 10. März 2021 machten sich thailändische Textilarbeiterinnen zur Nachtschicht auf. Doch diese Nacht war für die langjährigen Fabrikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter keine gewöhnliche. Die Türen ihres Arbeitgebers waren verriegelt. Den Mitarbeitenden wurde der Eingang verwehrt. Ein Hinweis befand sich beim Haupteingang: «Fabrik dauerhaft geschlossen».

Bis zu diesem Tag stellten rund 1400 Mitarbeitende Unterwäschemode her – viele davon arbeiteten gar mehr als ein Jahrzehnt für den Arbeitgeber Brilliant Alliance Thai Global, der bekannte Modemarken wie Victoria's Secret belieferte. Laut Angaben einer Mitarbeiterin handelte es sich bei den Entlassenen bei mehr als einem Drittel um Frauen im Alter von 45 Jahren und älter.

Ohne Vorankündigung wurde die Dessous-Produktionsstätte mit Sitz in der Grossstadt Samut Prakan eingestellt. Aus welchem Grund, erfahren die Mitarbeitenden nicht. Sie erhalten auch keine Abfindung – obwohl dies gegen das thailändische Arbeitsrecht verstösst. Denn: Arbeitgeber sind in Thailand gesetzlich dazu verpflichtet, eine Kündigungsfrist von einem Monat einzuhalten und ihre finanziellen Verpflichtungen zu begleichen, einschliesslich Löhne, ungenutzte Ferientage, nicht bezahlte Prämien.

Nur: Die Firma ist bankrott – und kann für die Abfindungen nicht mehr aufkommen. Das Unternehmen gab die Pandemie sowie den Mangel an Aufträgen als Gründe für den Konkurs an.

Damit begann der Kampf um Gerechtigkeit.

Über ein Jahr der Proteste

Zunächst suchten die Entlassenen Hilfe beim Arbeitsministerium – ohne Erfolg. Die Türen des Arbeitsministeriums waren genauso geschlossen wie jene der Fabrik. «Der Minister schien sich unsere Probleme nicht anhören zu wollen», sagte die Textilarbeiterin Jitnawatcharee Panad, die 25 Jahre für die Fabrik tätig war, dem «The Guardian».

Sie wandte sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen an einige Gewerkschaften. Gehör fanden sie bei Valter Sanches, dem Generalsekretär der internationalen Gewerkschaft IndustrieALL. Dieser meldete sich nach der Entlassung mit einem öffentlichen Brief beim Unternehmen:

Es ist nicht hinnehmbar, dass das Unternehmen einseitig und in unfairer Weise Arbeitnehmer entlässt, ohne die gesetzliche Kündigungsfrist und die gesetzlichen Zahlungen einzuhalten.

Das Verhalten der Geschäftsleitung verstösst eindeutig gegen die Arbeitsgesetze des Landes sowie gegen die allgemeine Erklärung der Menschenrechte (...).

Es ist klar, dass dieser Verstoss auch den Verhaltenskodizes Ihrer Kunden widerspricht (...).

Sanches forderte den Konzern zum konstruktiven Dialog sowie zur Zahlung der Abfindungen auf. Auch die entlassenen Mitarbeiter blieben nicht untätig. Sie gingen auf die Strasse, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Gewerkschaftsaktivisten schlossen sich an und demonstrierten vor dem Regierungssitz in Bangkok, um fällige Entschädigung durch die thailändische Regierung zu erwirken.

Doch statt Geld erhielten die Protestierenden erst einmal eine Strafanzeige. Laut «Business Humanrights» seien sechs Gewerkschaftsaktivisten im Januar 2022 von der thailändischen Polizei unter anderem wegen illegaler Proteste während der Pandemie angeklagt worden.

Doch dann kam die Wende.

Mehr als ein Jahr nach der Schliessung der Fabrik forderte die thailändische Regierung die Eigentümer, die in Hongkong ansässige Clover Group auf, die geschuldeten Löhne und Abfindungen innert 30 Tage zu begleichen. Zudem verurteilte die Regierung das Unternehmen zur Zahlung von 7.4 Millionen US-Dollar wegen des Verstosses gegen die Arbeitsgesetze des Landes.

«Dies ist sowohl der grösste Diebstahl als auch die grösste Nachzahlung, die wir je in einer einzelnen Bekleidungsfabrik gesehen haben.»
David Welsh

Doch das Unternehmen weigerte sich zu zahlen. Man habe derzeit kein Geld, argumentierten die Eigentümer. Die ehemaligen Arbeiterinnen und Arbeiter müssten sich bis zu 10 Jahre auf die volle Bezahlung gedulden. Als dies von den Gewerkschaften abgelehnt wurde, ging das Unternehmen in Liquidation und versprach, seinen gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen.

Aus 10 werden 1,5 Jahre

Weil den Eigentümern laut eigenen Angaben die flüssigen Mittel fehlen, springt nun ein ehemaliger Kunde des Fabrikanten in die Bresche. Das Dessous-Unternehmen Victoria's Secret gewährt Brilliant Alliance Thai Global laut Angaben von Reuters ein Darlehen in der Höhe von rund 8.36 Millionen US-Dollar, um die rund 1400 Entlassenen zu entschädigen.

Eine Rekordsumme.

Die Entschädigung entspreche für viele der Textilarbeiterinnen und -arbeiter laut Einschätzungen der Gewerkschaften mehr als vier Jahreslöhne. Der Betrag umfasse Löhne, Überstunden, Urlaubstage sowie Abfindungen sowie jährliche Zinsen.

«Über mehrere Monate waren wir in aktiver Kommunikation mit den Fabrikbesitzern, um eine Lösung zu ermöglichen», sagte der Dessous-Hersteller in einer Stellungnahme. «Wir bedauern, dass sie [Brilliant Alliance Thai Global, Anm. d. Red.] letztendlich nicht in der Lage waren, diese Angelegenheit allein zu lösen.»

Laut den Gewerkschaften ist dies die grösste Entschädigung, die in der globalen Bekleidungsindustrie je ausbezahlt wurde. «Dies ist sowohl der grösste Diebstahl als auch die grösste Nachzahlung, die wir je in einer einzelnen Bekleidungsfabrik gesehen haben», sagte David Welsh, Landesdirektor des Solidaritätszentrums in Thailand.

Symbolbild: Arbeiterinnen nähen Schuhe in einer Fabrik in Sankhlaburi, Kanchanaburi, Grenzprovinz zwischen Thailand und Burma, aufgenommen am 22. Juli 2017.
Symbolbild: Arbeiterinnen nähen Schuhe in einer Fabrik in Sankhlaburi, Kanchanaburi, Grenzprovinz zwischen Thailand und Burma, aufgenommen am 22. Juli 2017. bild: shutterstock

Die Entschädigung bedeute einen grossen Sieg für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Denn: «Dass Niedriglohnarbeiter in der Bekleidungsindustrie ungerecht behandelt werden, ist nichts Neues. Neu ist, dass die Arbeiter ihr Schicksal nicht akzeptieren – und nun gewonnen haben», so Welsh. Der gemeinnützigen Organisation liegen weitere 100 Fälle von Lohndiebstahl in der Bekleidungsbranche vor.

Auch die Organisation Worker Rights Consortium, die sich weltweit für den Schutz von Arbeitsrechten einsetze, bezeichnet den Fall nur als «Spitze des Eisberges». Während der Pandemie, als die Bestellungen für Bekleidung zurückgingen, seien die Probleme des Lohndiebstahls in der Bekleidungsindustrie explodiert.

«Lehre für die Zukunft»

Mit diesem Beispiel hoffen die Gewerkschaften, dass künftig weitere Textilarbeiterinnen und -arbeiter, die sich in einer ähnlich verzweifelten Lage befinden, ebenfalls den Mut fassen, sich zu verteidigen.

«Dieser Fall dient der Regierung als Lehre für die Zukunft», sagt der Präsident der thailändischen Industriegewerkschaft. Denn: Der Fall zeigt, dass ausländische Unternehmen, die in Thailand Geschäfte betreiben, sich auch an thailändisches Recht halten müssen.

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