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Grossbritannien: London diskutiert wieder über Brexit

Die Rückkehr des B-Worts: London diskutiert wieder über Brexit

21.11.2022, 15:55
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Der TV-Sender GB News gilt als Bastion der Brexit-Anhänger. Doch was die jüngste Umfrage des Kanals ergab, raubte selbst dem Moderator die Sprache. Dass 55 Prozent der Zuschauer den EU-Austritt mittlerweile für eine schlechte Idee halten, bekam Martin Daubney nicht über die Lippen.

Die Szene war symbolisch: Nachdem die britische Regierung den Brexit jahrelang gar nicht mehr erwähnt oder zumindest negative Folgen heruntergespielt hatte, ist das Wort tatsächlich wieder in aller Munde. «Zurück in die Zukunft», kommentierte das Portal «Politico».

Auslöser: Ein Bericht der Zeitung «Sunday Times», dass Premier Rishi Sunak wegen der schweren Wirtschaftskrise eine Annäherung an die EU nach dem Vorbild der Schweiz wolle. Damit sollten die entstandenen Barrieren im Handel mit der EU beseitigt werden. Die «Financial Times» schrieb daraufhin unter Berufung auf eigene Recherchen, solche Vergleiche seien in Regierungskreisen gemacht worden.

Sunak dementierte, dass es solche Ideen gebe. «Ich habe für den Brexit gestimmt, ich glaube an den Brexit, und ich weiss, dass der Brexit gewaltige Vorteile und Möglichkeiten für dieses Land liefern kann und bereits geliefert hat», sagte der Regierungschef am Montag bei einer Industriekonferenz. Die EU-Kommission teilte mit, man habe kein Angebot gemacht, sondern arbeite auf Grundlage der ausgehandelten Verträge mit London zusammen.

Britain's Prime Minister Rishi Sunak speaking during the CBI annual conference at the Vox Conference Centre in Birmingham, England, Monday, Nov. 21, 2022. (Jacob King/PA via AP)
Rishi Sunak dementierte zuletzt, dass er an einer EU-Annäherung interessiert sei.Bild: keystone

Dass die Diskussion dennoch aufkommt, wundert nicht. Die wirtschaftliche Lage des Vereinigten Königreichs ist schlecht: Rezession, hohe Inflation, Fachkräftemangel und sinkende Reallöhne sind nur die herausstechenden Probleme. Mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen will Finanzminister Jeremy Hunt rund 55 Milliarden Pfund (63 Mrd Euro) in die leere Kasse bekommen.

Was aber besonders für Aufsehen in konservativen Kreisen sorgte: Hunt sprach sich für mehr Zuwanderung aus, um die Wirtschaft anzutreiben und Lücken zu schliessen – dabei war doch der Ärger über die Freizügigkeit ein Brexit-Treiber. «Verratet uns nicht beim Brexit», warnte die konservative Zeitung «Daily Mail». Die frühere Kulturministerin Nadine Dorries, eine enge Vertraute von Ex-Premier Boris Johnson, teilte den Beitrag bei Twitter.

Johnson gilt noch immer als Gesicht des Brexits. «Get Brexit Done» (Lasst uns den Brexit durchziehen), lautete Johnsons Mantra – und noch immer behaupten viele Konservative, er habe das geschafft. Dabei hat das Austrittsabkommen mit der EU viele Fragen offen gelassen, die noch immer einer Antwort harren. So sorgt der Vertrag zwar weitgehend für problemlosen Handel – dennoch sind Zölle entstanden, und die Bürokratie hat deutlich zugenommen. Der bilaterale Handel brach ein.

Zuletzt nahmen die schlechten Nachrichten für Brexiteers zu. So kritisierte der konservative Ex-Umweltminister George Eustice, das Freihandelsabkommen mit Australien – von der Regierung als erster wichtiger Vertrag nach dem Brexit gefeiert – sei für Grossbritannien schlecht. Die unabhängige Wirtschaftsaufsicht OBR betonte, der Brexit habe «erhebliche nachteilige Auswirkungen auf den Handel» mit der EU gehabt und schädige die Wirtschaft nachhaltig. Schliesslich ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Yogov, die Zustimmung zum Brexit sei so niedrig wie nie – was ausgerechnet von GB News bestätigt wurde.

epa10258970 Pro-EU campaigners march as they demand the UK Government to reverse Brexit and rejoin the European Union in London, Britain, 22 October 2022. Campaigners claim leaving the European Union  ...
Trotz Demonstrationen ist eine Rückkehr Grossbritanniens in die EU kaum denkbar.Bild: keystone

Brexit is back, heisst es in London. «Es fühlt sich an, als erkenne die Konservative Partei endlich die wirtschaftliche Realität an», kommentierte Gavin Barwell, einst Stabschef von Premierministerin Theresa May, im Gespräch mit «Politico».

Dass Grossbritannien plötzlich den Rückwärtsgang einlegt und in die EU zurückkehrt, ist kaum zu erwarten. In der Konservativen Partei hat der Einfluss der Brexit-Befürworter seit dem Austritt eher noch zugenommen. Zudem lehnt Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei, der laut Umfragen gute Chancen auf einen Sieg bei der nächsten Wahl 2024 hat, eine Rückkehr in den Binnenmarkt ab.

Dass nun aber debattiert wird und der Brexit nicht mehr der Elefant im Raum ist, könnte nach Ansicht von Beobachtern durchaus helfen. Denn um das Land voranzubringen, sei wichtig anzuerkennen, welche Probleme der Brexit ausgelöst hat. Sonst drohe weiter Stillstand. (dab/sda/dpa)

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57 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Grobianismus
21.11.2022 16:06registriert Februar 2022
Ich muss ehrlich zugeben, ich sah den Brexit damals auch noch als eine Chance für London. Inzwischen muss ich eingestehen, dass ich falsch lag und der Brexit mehr Schaden auf beiden Seiten gebracht hat statt einem starken Grossbritannien. Gerade in der heutigen Zeit ist ein starkes und einiges Europa zwischen den Grossmächten wichtiger denn je.
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Chris_A
21.11.2022 16:57registriert Mai 2021
Irgendwann holt die Realität jeden Rechtspopulist ein.
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petrolleis
21.11.2022 17:06registriert August 2017
Es gibt halt nicht für jedes Problem eine einfache Lösung... da sind grosse Massen auf den populismus reingefallen , der dies immer verspricht 🤷‍♂️
Willkommen in der Realität...
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