Nordirland steht vor einer historischen Abstimmung im Regionalparlament. An diesem Samstag soll mit Michelle O'Neill erstmals in der 103-jährigen Geschichte der britischen Provinz eine Politikerin zur Regierungschefin gewählt werden, die eigentlich eine Vereinigung mit dem EU-Mitglied Irland anstrebt. Die Wahl beendet auch die politische Krise in der früheren Bürgerkriegsregion – auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Bruch der vorigen Regierung. O'Neills katholisch-republikanische Partei Sinn Fein hatte bei der jüngsten Regionalwahl im Mai 2022 erstmals die meisten Stimmen erhalten – kann sich aber den Regierungspartner nicht frei aussuchen.
Das fein ausbalancierte politische System Nordirlands sieht vor, dass die stärksten Kräfte beider konfessionellen Lager gemeinsam eine Einheitsregierung bilden müssen. Festgelegt ist das im Karfreitagsabkommen, das 1998 den jahrzehntelangen Bürgerkrieg beendet hatte.
Die grösste protestantische Partei DUP, die für die politische Union mit Grossbritannien eintritt und bisher den Regierungschef stellte, verweigerte aber die Zusammenarbeit. Sie forderte ultimativ ein Ende aller Zollkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs, auf die sich die britische Zentralregierung in London und die EU nach dem Brexit geeinigt hatten. Erst nach langen Verhandlungen stimmte die DUP vor wenigen Tagen einem neuen Dokument zu. Die innerbritischen Kontrollen sollen künftig auf ein Minimum reduziert werden. Die Zeitung «Times» schrieb, die Abmachung zwischen London und der DUP sei grösstenteils symbolisch.
Sinn Fein wertet die bevorstehende, historische Amtsübernahme der 47-jährigen O'Neill als grossen Schritt hin zu ihrem politischen Ziel. Ein geeintes Irland rücke «in greifbare Nähe», sagte Sinn-Fein-Präsidentin Mary Lou McDonald. Auch in der Republik Irland ist die Partei, die einst als politischer Arm der Terrororganisation IRA galt, die stärkste Kraft. Dort verhindern aber zwei liberal-konservative Parteien mit einer Koalition eine Regierungsbeteiligung.
In Umfragen ist die Skepsis auf nordirischer Seite gross. Die Zeitung «Irish Times» ermittelte Ende 2023, dass sich dort bei einem Referendum nur 30 Prozent für die Vereinigung aussprechen würden, aber 51 Prozent dagegen. In Irland liegt die Zustimmung bei knapp zwei Dritteln. Grundsätzlich strebt auch die irische Führung einen Zusammenschluss an. «Ich glaube, wir sind auf dem Weg zur Vereinigung, ich glaube, dass es ein vereintes Irland zu meinen Lebzeiten geben wird», hatte Regierungschef Leo Varadkar im September 2023 gesagt - und scharfe Kritik aus London ausgelöst.
Die Demografie spricht für die Republikaner. Erstmals leben mehr Katholiken in Nordirland als Protestanten, wie eine Volkszählung von 2021 gezeigt hat. Stand jetzt sieht es nicht danach aus, dass sich das wieder ändert. Dabei war das Gebiet 1921 nach dem irischen Bürgerkrieg ausdrücklich als Heimstätte für diejenigen gegründet worden, die weiterhin Teil Grossbritanniens sein wollten - und das waren in der Mehrheit Protestanten. Umso intensiver beharren die Unionisten deshalb auf ihren Positionen, wie Experten meinen. Aus Protest gegen die Brexit-Sonderregeln hatte es Randale in Belfast und anderen Städten gegeben. Militante Loyalisten vertrieben erst die Passagiere aus Bussen und zündeten die Fahrzeuge dann an.
DUP-Chef Jeffrey Donaldson sieht sich nun als Sieger, der die Interessen seiner Wähler bei der britischen Regierung durchgesetzt hat. Doch er räumte ein, er habe nicht alle Ziele erreicht. Wie die EU-Kommission, die sich mit der britischen Regierung auf die Zollkontrollen geeinigt hatte, das neue Dokument bewertet, ist noch nicht bekannt. Sie müsste gravierenden Änderungen eigentlich zustimmen.
Ziel der bisherigen Regelung war, nach dem Brexit eine «harte Grenze» zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu vermeiden, um keine neuen Konflikte zu schüren. Doch die Umsetzung führte teilweise zu Engpässen bei Lebensmitteln, Medikamenten und Gärtnereiprodukten. Haustiere konnten nicht mehr mit in den Urlaub nach Grossbritannien genommen werden. Loyalisten fürchteten, dass die Kontrollen die Union mit Grossbritannien gefährden.
Die meisten Parteien in Nordirland begrüssten die Rückkehr der DUP ins «power-sharing». Doch Hardcore-Unionisten sind nicht überzeugt. Die Partei Traditional Unionist Voice (TUV) sowie einflussreiche loyalistische Politiker und Blogger kritisieren, DUP-Chef Donaldson habe sich verkauft. Nordirland sei in Wahrheit weiterhin von den Gesetzen der EU abhängig, zu deren Binnenmarkt und Zollunion die Region de facto auch nach dem Brexit gehört. Experten warnen, Donaldson müsse aufpassen, dass das unionistische Lager nicht weiter zersplittert. (sda/dpa)
Ich stimme Varadkar zu, es ist durchaus im Bereich des Möglichen, dass Irland zu unseren Lebzeiten noch vereint werden könnte.