Es begann im Frühsommer 2018 im Zimmer ihres Sohnes. Es war nur ein kleiner Spalt in der Wand beim Fenster. Was fast überall in der Welt nichts Besorgniserregendes darstellt, löst in der irischen Grafschaft Donegal sämtliche Alarmglocken aus. Trotzdem erkannte Mary Lafferty den Vorboten nicht: «Ein Familienmitglied gehörte zu den Ersten, die um etwa 2010 herum Probleme mit ihren Häusern hatten. Trotzdem waren wir überzeugt, dass wir nicht betroffen sind», sagt sie rückblickend gegenüber watson.
Die Laffertys leben auf Inishowen, der grössten Halbinsel Irlands am Nordzipfel des Landes. 40'000 Einwohner besiedeln hier eine Fläche so gross wie der Kanton Neuenburg. Die grösste Ortschaft Buncrana hat keine 7000 Einwohner. Weit weg ist man hier von den modernen Alphabet-, Amazon- und Meta-Ablegern, die seit Ende der 90er-Jahre das einst verschlafene Dublin in einen Techhotspot verwandelten. In Inishowen entspricht Irland noch den Märchenklischees: wilde Küsten, malerische Landschaften – und vor allem jede Menge Schafe. Gleich um die Ecke wurden diverse Szenen von «Game of Thrones» gedreht, im August fanden hier die nationalen Schafschermeisterschaften statt.
Doch das Idyll trügt. Auf Inishowen hängt mehr als nur der Haussegen schief. Hier grassiert die Seuche besonders stark: «Es ist wie ein Krebs», erklärt Mary Lafferty, «und wie Krebs gehört es entfernt.» Was die Mutter dreier Kinder beschreibt, ist in Irland unter dem Namen «Glimmer-Krise» (Mica crisis) bekannt: Häuser, noch keine zwei Jahrzehnte alt, weisen plötzlich Risse in den Wänden auf. Es beginnt unscheinbar, ein kleiner Haarriss da, ein Spältchen dort. Doch aus den kaum sichtbaren Schäden werden immer längere und tiefere Scharten. Am Ende überdecken sie wie ein Spinnennetz ganze Fassaden. Das ist Stufe eins.
In der zweiten Stufe wird das Mauerwerk mürbe, es zersetzt sich, so stark, dass Teile herausfallen oder ohne Kraftaufwand von Hand herausgebrochen werden können. Nun befindet sich das Haus im Endstadium. Die Bewohner müssen ausziehen und ihre geliebten vier Wände der Abrissbirne übergeben.
Dieses Schicksal wird auch die Laffertys ereilen. Gebaut wurde ihr Haus 2004 von Marys Vater, einem erfahrenen Bauarbeiter, auf einem Grundstück, das die junge Lehrerin von ihrem Bruder erhielt. 2006 erfolgte der Einzug. Fünf Jahre später zeigten die ersten Häuser Zerfallserscheinungen. Zuerst waren es nur ein paar Dutzend, doch daraus wurden Hunderte, Tausende. 7000 Einfamilienhäuser sollen in den Grafschaften Donegal und Mayo betroffen sein. Dazu kommen unzählige Schuppen, Garagen, Werkstätten, aber auch Schulhäuser und Spitäler. «Die Frage ist nicht, wer es hat, sondern wer nicht», titelte die «Irish Times». Die Schadenssumme beläuft sich auf über vier Milliarden Euro. Tendenz steigend.
Schuld, soviel ist klar, sind verbaute Betonelemente. Sie zersetzen sich im Verlauf der Jahre. Warum genau, darüber sind sich die Experten noch nicht wirklich einig. 2017 kam ein Gremium in einem über 80-seitigen Bericht zum Schluss, das Problem sei der zu hohe Glimmeranteil. Ein Prozent wäre erlaubt, gewisse der verbauten Blöcke wiesen bis zu 57 Prozent aus. Die Theorie: Der zu hohe Glimmeranteil in den Betonblöcken reduziere die Wetterfestigkeit. Die Schäden seien dann durch Frost entstanden. Für Jahre hielt sich dieses Narrativ – und es setzte sich auch mit der Bezeichnung «Glimmer-Krise» durch.
Anfänglich ebenfalls überzeugt von dieser Theorie war Paul Dunlop. 49 Häuser müssen in seiner direkten Nachbarschaft abgerissen werden. Darunter befindet sich auch sein eigenes. Sie alle wurden zwischen 2003 und 2008 gebaut, alle aus denselben Betonelementen. Doch als eine Materialprobe das Mineral Pyrrhotin zutage bringt, beginnt der Professor für Glaziologie an der Universität Ulster plötzlich zu zweifeln: «Das liess mich vermuten, dass mehr als nur Glimmer im Spiel war. Ich begann, über Pyrrhotin zu recherchieren. Und ich bat Andreas um Hilfe.»
Andreas, das ist Andreas Leemann, Leiter der Forschungsgruppe Betontechnologie der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA. Leemann, Dunlop und ein Team von Spezialisten entnahmen Proben, untersuchten diese mit Röntgen und im Rasterelektronenmikroskop, erstellten thermodynamische Modelle – und kamen Ende 2022 nach vorsichtiger Abwägung aller Resultate zum Schluss: Der unerlaubt hohe Anteil an Pyrrhotin in den verbauten Elementen löst eine Kettenreaktion aus, an deren Ende fundamentale Bestandteile des Betons wie Calciumsilikathydrate aufgelöst werden. Die Folge davon ist fatal: Der Baustoff zersetzt sich. Und das so richtig. Videoaufnahmen zeigen, wie ein Stück Beton, das eben noch ein stützendes Teil eines Wohnhauses war, zu Staub zerfällt, als es auf den Boden fallen gelassen wird. Nach über einem Jahrzehnt wurde die wahre Ursache der angeblichen Glimmer-Krise damit gefunden.
Zum Unglück der Eigenheimbesitzer sind ihre Verpflichtungen gegenüber den Banken beständiger als der Baustoff. Sie zerbröseln nicht einfach: «Wir haben eine Hypothek auf unserem Haus – auch wenn es nichts mehr wert ist. Sie beträgt etwa 1400 Euro pro Monat», beschreibt Mary Lafferty ihre Situation: «Wir müssen die Ernsthaftigkeit des Problems für unsere psychische Gesundheit und die unserer Kinder stetig herunterspielen.»
Noch kann die Familie in den befallenen vier Wänden bleiben. Doch bald müssen sie sich um eine neue Bleibe kümmern. Eine solche zu finden, könnte schwierig werden. Wie in der Schweiz sind Mietwohnungen in Irland aktuell Mangelware. Die Glimmer-Krise, der Begriff hält sich trotz EMPA-Studie weiter eisern, fällt in die Zeit einer allgemeinen Wohnungskrise. In den letzten 10 Jahren haben sich die Wohnungsmieten auf der Insel verdoppelt. Dasselbe gilt für die Eigentumspreise. Vor 2013 besassen 60 Prozent aller Irinnen und Iren zwischen 25 und 34 Jahren Eigentum. Heute sind es weniger als 30 Prozent.
Auch finanziell trifft es die Laffertys hart: «Wir werden auf Geld zurückgreifen müssen, das wir für die Ausbildung der Kinder beiseitegelegt haben. Und wir müssen von Verwandten leihen.» Doch auch andere Familienmitglieder sind von der Krise betroffen, werden ebenfalls ihr Haus verlieren: «Zwei meiner Schwestern haben defekte Häuser. Wenigstens habe ich angesichts der grossen Zahl der betroffenen Familien in der Gemeinde nie das Gefühl, allein zu sein.»
Dabei wäre das Gefühl berechtigt. Die Banken schauen weg, die Versicherungen fühlen sich nicht verantwortlich, die Produzenten der betroffenen Betonteile spielen Unschuldslämmer: «Das Versagen bei den Standards hat uns alle enttäuscht», liess Cassidy Bros. verlauten. Laut der «Irish Times» lieferte der Baumaterialhersteller bei 80 bis 90 Prozent aller gebauten Einfamilienhäuser in den 90er- und 2000er-Jahren in Donegal das Material. Das Familienunternehmen besass einen ausgezeichneten Ruf – seine Betonelemente galten als die besten. Nach der behördlich angeordneten Schliessung einer Fabrik produziert Cassidy heute keine Betonelemente mehr, ist aber zum Unmut einiger Geschädigten weiterhin im Bausektor tätig.
Weiter südlich, in der Grafschaft Clare, wo ebenfalls über 1000 Einfamilienhäuser mit denselben Problemen identifiziert wurden, stammt bei zwei Dritteln der Fälle das schadhafte Material von CRH. Die Cement Roadstone Holding gehört mit fast 33 Milliarden Euro Umsatz zu Irlands grössten Konzernen überhaupt und ist im Segment der Baumaterialien weltweit die Nummer drei.
Der Versuch der Identifikation eines Hauptschuldigen, ein Reflex bei Katastrophen wie dieser, ist in diesem Fall nicht so einfach. Die Gebrüder Cassidy betonen, sich stets an die Baunormen der Regierung gehalten zu haben und mit einem eigenen Labor die vorgeschriebenen Tests durchgeführt zu haben. Diese seien regelmässig von unabhängigen Prüfern kontrolliert worden. Weitere Fragen dazu von der «Irish Times» wollte Cassidy Bros. dann aber doch nicht beantworten. Über einen Anwalt wurde ausgerichtet, dass die Fragen suggestiv seien.
Ob Cassidy sich korrekt verhielt, ist heute erstaunlich schwierig zu eruieren. Die Kontrollen fielen damals in den Zuständigkeitsbereich lokaler Behörden – und in deren schmales Budget. Dieses hatte zur Folge, dass es den Baubehörden gar nicht möglich war, Materialproben zu analysieren und die Umsetzung der Reglemente durchzusetzen. Stattdessen wurde auf Selbstkontrolle gesetzt. «Der Staat hat sich 50 oder 60 Jahre lang mit der Zementindustrie ins Bett gelegt», sagt Seamus Maye gegenüber dem Portal Donegallive. Er muss es wissen. Der Unternehmer produzierte selber jahrzehntelang Betonsteine. «Die Gesetze wurden nicht durchgesetzt und die Regeln waren und sind noch immer lax. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Staat letztendlich für die Schäden aufkommen muss.»
Damit liegt der Ball bei der Regierung. Wobei der Plural «Regierungen» der treffendere Ausdruck wäre. Seit Ausbruch der Krise ist es nun die dritte, die sich damit beschäftigen muss. Der Vorsitz des zuständigen Ministeramts wurde in derselben Zeit von nicht weniger als zehn verschiedenen Männern aus vier verschiedenen Parteien besetzt. Dementsprechend inkohärent kam 2020 ein erstes Hilfsprogramm daher. In der Theorie versprach es, für 90 Prozent der Schäden aufzukommen. In Tat und Wahrheit waren es deutlich weniger, denn das Programm enthielt diverse Aussparungen. Abbruch und Entsorgungskosten, Planung und Architekturarbeiten, Schäden an Fenstern und in der Küche wären zum Beispiel nicht übernommen worden, genauso wie Arbeiten am Fundament. Ein Abriss mit Neubau wäre damit für viele Betroffene unerschwinglich gewesen.
Nach gross angelegten Protesten folgte – von einer neuen Regierung – ein zweites Hilfsprogramm. Zwar wurden die Maximalbeträge für Reparaturen und Neubauten erhöht, fundamentale Probleme blieben aber bestehen. Dazu gehört, dass zum Programm nur zugelassen wird, wer entsprechende Materialtests vorweisen kann. Diese belaufen sich auf 5000 Euro und müssen selbst berappt werden. Ausserdem wird das Geld stets rückwirkend ausbezahlt. Neben einer neuen Bleibe müssen sich Hauseigentümer also auch um einen Überbrückungskredit kümmern. Laut Experten belaufen sich die durchschnittlichen Kosten für einen Abriss mit Neubau auf zwischen 60'000 und 70'000 Euro. Zu viel für Pensionäre und junge Familien. «Die Regierung lässt uns komplett im Stich», kommentiert Mary Lafferty die Situation.
Die Laffertys haben wenig Hoffnung, vom Hilfsprogramm unterstützt zu werden. Ihr Haus ist zu gross, müsste verkleinert und rollstuhlgängig gebaut werden – und es benötigt ein neues Fundament. Den Laffertys fehlen dafür 250'000 Euro. Trotzdem haben sie sich vor einem Jahr für das Hilfsprogramm angemeldet – und von den Behörden seither nichts mehr gehört.
Maximal zwei Jahre können sie noch in ihrem Haus bleiben, so schätzt Mary. Wie es dann weitergeht, weiss sie noch nicht: «Dass mein Sohn im Rollstuhl sitzt, macht die Sache noch komplizierter. Ich weiss ehrlich gesagt nicht, wie wir das Problem lösen. Wir benötigen vermutlich die Hilfe der lokalen Behörden. Um diese zu erhalten, müssen wir zuerst obdachlos werden.»
Überall wo der Neoliberalismus gross ist sehen wir heute die selben Probleme mit veralteter Infrastruktur. Vor allem in USA, GB...
Aber weder erfahre ich, was das ist, welcher Anteil erlaubt ist, warum der Anteil zu hoch ist noch warum es dazu kam und ob das nun tatsächlich die Ursache ist der ganzen Tragödie...
Könnt ihr bitte noch nachliefern? Ansonsten find ich den Beitrag schon ok...