Seine Wahl zum Labour-Vorsitzenden sandte Schockwellen durch das politische System in Grossbritannien. Seitdem ist es um Jeremy Corbyn nicht ruhiger geworden, im Gegenteil. Ob Corbyn mit dem Rampenlicht klarkommt, wird für seinen Erfolg entscheidend sein.
Der britische Oppositionsführer ist Grossbritanniens ungewollter neuer Medienstar: Keine Titelseite ohne den neuen Labour-Chef, Prominente und Royals rücken in die zweite Reihe. Corbyn hat angekündigt, eine neue, sachlichere Art von Politik machen zu wollen – doch auf dem Weg dahin ist er schon in einige Fettnäpfchen getreten.
Sein schlimmstes Vergehen in den Augen der überwiegend patriotisch gesinnten Presse: Corbyn hat die Nationalhymne nicht mitgesungen.
Bei einem Gedenkgottesdienst zum 75. Jahrestag der Luftschlacht von Grossbritannien am Dienstag stand Corbyn, langjähriger Republikaner, schweigend mit verschränkten Händen da, als «God Save the Queen» gesungen wurde. Es war eine kontroverse Entscheidung, die ihm Kritik von Abgeordneten der Regierungspartei und auch aus den eigenen Reihen einbrachte.
Corbyn was right not to sing the national anthem. Authenticity is all he has – @hugh_muir http://t.co/mvpoLiY01l pic.twitter.com/ZWgrOnq3et
— Comment is free (@commentisfree) 16. September 2015
Doch niemand reagierte schärfer als die Presse: «Schändlich» sei Corbyns Benehmen, eine «Brüskierung» der Königin und eine «Abfuhr» für das ganze Land, so die «Sun» und der «Telegraph». Die «Daily Mail» fügte hinzu, dass nicht einmal Corbyns oberster Hemdknopf geschlossen gewesen sei.
Corbyn antwortete knapp auf Twitter: «Wir haben keine Zeit für Geschwätz», schrieb er, «Leute leiden in diesem Land – und wir haben Arbeit zu tun.»
Er ist bekannt dafür, kein Freund der Medien zu sein. In seiner Kampagne zur Übernahme des Parteivorsitzes in der Labour-Partei baute er vor allem auf Freiwillige und soziale Netzwerke, um seine Botschaften zu verbreiten. Auch nach seinem Sieg gab er nur wenige Interviews.
Einen Auftritt in einer der wichtigsten Polit-Talkshow des Landes sagte er ab – wegen eines Terminkonflikts mit einer Veranstaltung an der Basis. Auch das beratungsintensive Image-Management, das Vorgänger wie Tony Blair und Ed Miliband betrieben, lehnt Corbyn ab.
Der langjährige Hinterbänkler verspricht, Politik nicht für die Medien, sonder die Menschen zu machen – «mehr Fakten, weniger Theater», wie er es am Mittwoch bei der Fragestunde im Parlament formulierte.
Dort kam das gut an: Premierminister David Cameron sagte, niemand sei begeisterter als er, wenn es gelänge, die traditionell turbulente Fragestunde «aufrichtiger» zu machen.
Corbyns Prinzipientreue und sein enger Draht zur Labour-Basis haben ihn dahin gebracht, wo er jetzt ist. Doch in seiner neuen Rolle könnte seine Verweigerung gegenüber den Medien ihm schaden, warnen Kommentatoren. «Eine Medienoffensive mit klaren, spitzen Botschaften ist entscheidend, sonst bleibt eine Schmierenkampagne unwidersprochen», schrieb der «Guardian».
Der «Indepent» ging noch einen Schritt weiter: Corbyn müsse seine Strategie im Umgang mit den Medien radikal ändern – die Presse aus Prinzip zu ignorieren, sei «Selbstmord durch Naivität». (lhr/sda/dpa)