In Indien infizieren sich aktuell jeden Tag im Schnitt so viele Menschen mit dem Coronavirus, wie in einer Stadt wie Garmisch-Partenkirchen (rund 27'000 Einwohner) leben. Am Sonntag teilte das Gesundheitsministerium mit, dass innerhalb von 24 Stunden 28'637 Menschen positiv getestet wurden. Und die Dunkelziffer ist aufgrund der vergleichsweise wenigen Tests noch viel höher.
Das war nicht immer so: Denn von März bis Anfang Juni hat es in Indien einen Lockdown gegeben. Seit Juni wurden die Ausgangssperren aufgehoben – die Zahl der Neuerkrankten ist immens in die Höhe geschossen. Und zwar so sehr, dass in Zentren wie Bangalore und Pune seit Dienstag wieder ein Lockdown gilt.
In Indien müssen zwei Drittel der Menschen täglich mit weniger als 2 US-Dollar (rund 1.70 Euro) überleben. Schutzkleidung und Masken? Können sich die meisten Menschen nicht leisten. Abstand halten? Ist wegen der meist beengten Situation vor Ort in den Grossstädten und Slums nicht möglich. In einer typischen Unterkunft in Ballungsräumen leben rund sieben Personen auf zehn Quadratmetern Grundfläche.
In grossen Städten wie Delhi und Kalkutta gehen dagegen inzwischen Behördenmitarbeiter von Haus zu Haus, um die Bevölkerung zu testen. Zudem werden die Strassen mit Desinfektionsmittel besprüht. Versuche, das Virus einzudämmen.
Dr. Tobias Vogt ist seit 1998 in Kalkutta im Einsatz. Der deutsche Arzt für Innere Medizin und heute 51-Jährige arbeitet für die Organisation German Doctors . Wovon er berichtet, ist schockierend und alarmierend zugleich.
«Es sind irrationale Ängste im Spiel», sagt Vogt, als er auf die Situation in der Nachbarschaft in Kalkutta eingeht. «Sehr viele Männer arbeiten hier auf Tagelohnbasis an grossen Baustellen und Fabriken. Das steht jetzt alles still, und die Tagelöhner haben seit mehr als drei Monaten kein Einkommen mehr.»
Daraus folgt eine Situation, die für viele Tagelöhner lebensbedrohlich ist. «Sie haben keine Rücklagen, es gibt auch keine Sozialhilfe für sie», fährt der Arzt fort. «Laufende Kosten können sie nicht mehr bezahlen, und dann wird ihnen zum Beispiel der Strom abgestellt. Ganze Familien haben nichts zu essen.»
Vogt hat daher in den letzten zwei Monaten rund 2'000 Lebensmittelpakete mit verpackt. Allerdings reichen diese gerade mal für eine Woche, nicht, um eine Familie langfristig zu versorgen.
Besonders für Wanderarbeiter, die sonst Tausende Kilometer weit reisen, um Arbeit zu finden, damit sie ihre Familien ernähren können, ist die Situation existenzbedrohend. Durch den Lockdown und den damit verbundenen Stillstand von Fabriken sind die Arbeiter zurück in die Städte gereist, aus denen sie ursprünglich kommen. Doch dort werden sie nicht mehr herzlich empfangen, sondern nur gefürchtet. «Die Nachbarschaft hat solche Angst, dass sie diese Leute aus dem Viertel treibt», berichtet Vogt.
Die Folge: Die Arbeiter müssen sich in ihren jeweiligen Heimatstädten in Sammelunterkünfte begeben und auf das Coronavirus testen lassen, bevor sie ihre Unterkünfte betreten dürfen. «Dabei ist ihr Risiko, an Covid-19 zu erkranken, nicht anders als das Risiko der Wohnbevölkerung», berichtet der Arzt.
Einen ähnlichen Eindruck hat auch Martina Appuhn. Sie vertritt den Deutschen Caritasverband in Indien, war bis vor der Ausganssperre in Neu-Delhi tätig und musste mit dem letzten Flieger nach Deutschland reisen. Seitdem ist sie per Video und Nachrichten mit den Personen vor Ort aus dem Homeoffice verbunden. Auch sie berichtet, dass die Armen die Leidtragenden sind.
«Mit dem Beginn des Lockdowns wurden einige Slums abgeriegelt, was die Versorgung der dort lebenden Menschen verschlechtert hat», so Appuhn. Die abgeriegelten Zäune sind seit den Lockerungen verschwunden, die Probleme bestehen noch immer. Appuhn weiter: «Die hygienische Versorgung in den Slums ist schlecht: Es teilen sich oft mehr als hundert Familien eine Toilette und die Waschmöglichkeit. Wenn Wasser da ist, trinken es die Menschen, um zu überleben. Hygiene hat da keine Priorität.»
Wanderarbeiter waren zum Teil über 20 Tage unterwegs, um zurück in ihre Heimatorte zu gelangen. Viele haben dabei über 1'000 Kilometer zurückgelegt. Würde die Regierung ihnen Unterstützung anbieten, wäre für diese Menschen ihr eigener Lohn die oberste Priorität, danach käme der Erhalt von Lebensmitteln. Keiner der Arbeiter denkt an Hygiene oder die Gesundheit. Dies ergab eine Umfrage der Caritas Indien unter Wanderarbeitern.
Appuhn hat zudem von Kollegen, die noch in Delhi sind, erfahren, dass vieles ausser Kontrolle gerät: «Das Gesundheitssystem ist völlig überlastet. Es gibt nicht genug Krankenhausbetten und Intensivstationen, sodass Kranke abgewiesen werden. Die Anzahl der Krematorien reicht nicht aus, um Verstorbene in Delhi einzuäschern. Die Verstorbenen werden schon mit Taxis zu Krematorien gefahren, weil Bestattungsunternehmer überlastet sind. Auch Eisenbahnwagons, Stadien und Hotels wurden in Lazarette umgewandelt. Es ist eine riesige Katastrophe.»
Schutz gibt es für die Armen kaum, wie Tobias Vogt weiss. «Ich selbst kann mich optimal schützen, aber die Einheimischen haben nicht das Geld. Wenn man die Leute draussen sieht, tragen vielleicht 50 Prozent eine Maske. Die allerwenigsten Familien haben Hände-Desinfektionsmittel», berichtet der Arzt aus Kalkutta.
Hygiene ist nicht das einzige Problem. Auch die Wirtschaft spielt eine Rolle. «Arbeitsrechte wurden ausgesetzt, um die Industrie zu stärken», sagt Appuhn. Die Folgen davon sind gerade für Kinder nicht gut. «Das, wofür Nichtregierungsorganisationen (NGOs) jahrelang gekämpft haben, wurde nun zum Teil für Jahrzehnte ausgesetzt. Kinderarbeit, häusliche Gewalt und Menschenhandel werden nach Aussagen von lokalen NGOs in den nächsten Jahren wieder zunehmen.»
Die Situation in den Grossstädten ist angespannt. In einigen Stadtvierteln sind die Bürger wütend auf die Polizei. «Wenn Polizisten die Warteschlangen vor einem Markt oder vor einer Bankfiliale zerstreuen wollen, reagieren die Menschen, die sich dort anstellen, verärgert. Es kam auch zu Gewalt zwischen den Menschen einer Warteschlange und Polizisten hier in unserer Strasse», erzählt Vogt.
Der Arzt macht sich Sorgen. Denn neben dem Coronavirus gibt es im Land weitere schlimme Krankheiten wie Tuberkulose. Die Covid-19-Pandemie hat auch den Umgang mit diesen Leiden verändert. Normalerweise hat Vogt 30 bis 40 Tuberkulose-Diagnosen pro Monat, zuletzt waren es ein Zehntel davon. «Das bedeutet, dass es derzeit in den Ghettos viele Tuberkulosekranke geben dürfte, die unsere Dienste nicht erreicht. Vermutlich sterben derzeit viele Menschen, weil sie keine qualifizierte Hilfe finden», erzählt der Arzt.
Er darf inzwischen wieder ambulant arbeiten. Auch wenn dies nicht immer einfach ist. «Unter der persönlichen Schutzausrüstung wird es sehr warm und man verliert viel Flüssigkeit.» Auch wenn es in Indien ab August den von der Regierung geplanten Impfstoff Covaxin geben könnte, glaubt Vogt nicht an eine schnelle Veränderung im Land. «Wir werden uns noch länger gedulden müssen», sagt er.
>>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Inzwischen ist Indien laut Johns-Hopkins-Universität das am drittstärksten betroffene Land weltweit hinter den USA und Brasilien. Martina Appuhn bedrücken zudem die langfristigen Folgen: «Die Menschen werden kaum getestet – besonders trifft das auf ländliche Regionen zu. Man vermutet daher, dass die Dunkelziffer viel, viel höher ist. Die absolute Katastrophe steht jedoch erst bevor und resultiert aus der gestiegenen Arbeitslosigkeit.»
Ich habe leider auch kein Patentrezept, aber es gäbe auch in Indien sicher genügend Geld, um die Slums und die Armut konsequenter anzugehen?