Wie nun von verschiedenen Medien berichtet wird, ist die belarussische Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa an der Grenze zur Ukraine verhaftet worden. Nach unterschiedlichen Angaben wurde sie dort entweder an der Flucht gehindert oder hatte sich einer Abschiebung widersetzt. Sicher gilt nun allerdings, dass sie von belarussischen Sicherheitskräften festgehalten wird, wo ist allerdings nach wie vor unklar.
Die 38-jährige Aktivistin ist eine der wichtigsten Oppositionellen, die sich gegen den umstrittenen Staatschef Alexander Lukaschenko stellen und sich gegen den Gang ins Exil entschieden hatten. Andere Kollegen des Oppositions-Gremiums waren zuvor festgenommen oder zur Ausreise gezwungen worden. Einige waren auch aus Angst geflüchtet, wie die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowaskaja, die sich derzeit in Litauen aufhält.
Warum Kolesnikowa ausgerechnet jetzt verhaftet wurde und was ihr Verschwinden für die Oppositionsbewegung in Belarus bedeutet, wollte watson von Osteuropa-Expertin Sarah Pagung wissen.
Hat Sie das Verschwinden von Maria Kolesnikowa überrascht?
Sarah Pagung: Nicht wirklich. Wir haben in den vergangenen Wochen schon gesehen, dass Lukaschenko gegen den Regierungsrat der Opposition immer stärker vorgeht. Es war nur die Frage, ob er und die Politiker an seiner Seite sich wirklich trauen würden, die führenden Köpfe festzunehmen. Aber das ist aus Sicht des Regimes die logische Strategie, um die Identifikationsfiguren dieser Demonstrationen festzusetzen.
Lange war nicht ganz klar, wo sie steckt und bis jetzt ist nicht klar, wie ihre Verhaftung abgelaufen ist. Was vermuten Sie?
Es werden Sicherheitskräfte des Regimes gewesen sein. Die Umstände sind noch nicht ganz klar, aber wir haben relativ starke staatliche Strukturen in Belarus, die ja auch schon in der Vergangenheit Oppositionelle verhaftet haben. Das ist der Unterschied zum Fall Nawalny: In Belarus ist ziemlich sicher davon auszugehen, dass es letztlich die Sicherheitskräfte waren oder jemand zumindest in deren Auftrag gehandelt hat. Das sind auch klar diejenigen, die davon profitieren werden.
Denken Sie, dass Regierung von Alexander Lukaschenko die aktuelle Aufmerksamkeit auf den Fall Nawalny auszunutzen wollte, um in Belarus hart durchzugreifen?
Ich denke, dass das eher aus einer internen Logik aus Belarus heraus passiert ist. Die Demonstrationen sind nicht abgebrochen. Wir hatten auch am vergangene Wochenende wieder Hunderttausende auf den Strassen. Lukaschenkos Strategie des Aussitzens funktioniert eben nur mässig. Er musste in irgendeiner Form handeln, um die Proteste zumindest zu minimieren. Je länger die Proteste laufen gelassen werden, desto eher manifestiert sich da eine Oppositionsstruktur.
Wie wichtig ist Kolesnikowa für die Opposition in Belarus?
Ihre Funktion ist eher eine symbolische. Kolesnikowa ist eigentlich keine Politikerin, sie ist in diese Funktion hineingerutscht. Weil ihr Chef nicht an der Präsidentschaftswahl teilnehmen konnte, trat sie an. Sie ist deshalb vor allem eine Identifikationsfigur. Sie war die einzige verbliebene Führungsfigur des Koordinierungsrates der Opposition. Alle anderen sind entweder verhaftet oder aus dem Land geflohen.
Was könnte ein dauerhaftes Verschwinden von Maria Kolesnikowa für die Opposition in Belarus bedeuten?
Entweder es führt zu einer «Jetzt-erst-recht-Mentalität» bei den Demonstranten – oder dazu, dass sich die Proteste abschwächen, weil es keine Kanäle mehr gibt, um sie zu lenken. Das ist momentan noch nicht absehbar. Ich erwarte allerdings, dass man jetzt, nachdem man gegen den politischen Überbau der Opposition vorgegangen ist, auch gewaltsamer gegen die Proteste vorgehen wird. Letztlich auch, weil sich gezeigt hat, dass das Aussitzen nicht funktioniert.
Es gibt für Lukaschenko natürlich auch noch eine dritte Möglichkeit: nämlich auf die Forderungen einzugehen …
Das wäre theoretisch möglich. Wenn man aber in dem Umfang auf die Forderungen eingeht, wie sie auf dem Tisch liegen, würde das bedeuten, dass Lukaschenko an Macht verliert. Das wird er nicht tun. Was er möglicherweise tun wird, ist, gewisse Reformen durchzuführen: nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche. Wobei sich hierbei nichts an seiner Macht ändern wird. Das wäre mehr eine Art Feigenblatt, um den Demonstranten eine Art Knochen hinzuhalten und eine Politikänderung anzudeuten, ohne wirklich etwas am System zu ändern.