Der russische Präsident Vladimir Putin bedient sich der Vergangenheit, um die brutale Invasion in die Ukraine zu legitimieren. Seine Rhetorik entspreche dabei exakt jener von russischen Nationalisten im 19. Jahrhundert, sagt der Basler Historiker Fabian Baumann. Ein Gespräch über Geschichtsklitterung und einen Kreml-Chef, der sich als Historiker verrannt hat.
Sie haben den russischen Nationalismus in den vergangenen Jahrhunderten untersucht. Wo reiht sich Vladimir Putin ein?
Fabian Baumann: Putin greift Ideen und Diskurse auf, die der nationalistischen Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts entstammen. Nicht in allen Bereichen ist er auf der Linie der damaligen Nationalisten. Diese waren beispielsweise stark anti-semitisch ausgerichtet, was Putin nicht ist. Aber hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Ukraine und Russland vertritt er exakt ihre Linie.
Welche ist das?
Die Grundidee des russischen Nationalismus geht von einem Volk der Ostslawen aus. Seit dem 19. Jahrhundert wird diesbezüglich von einer Dreieinigkeit gesprochen, zu der die Russen, Ukrainer und Belarussen zählen. Gewisse kulturelle Unterschiede werden ihnen zwar zugestanden, doch die Gemeinsamkeiten überwiegen aus Sicht der russischen Nationalisten deutlich. Sie verstanden die drei Zweige als ein Volk, das von einem Staat regiert werden sollte. Darauf bezieht sich Putin direkt, indem er die Russen und die Ukrainer als eine Einheit bezeichnet.
Was ist da dran?
Das lässt sich aus historischer Perspektive nicht eindeutig beantworten. Die Geschichte bringt Russland und die Ukraine zusammen, trennt sie aber auch. Je nach Perspektive lässt sich die eine oder andere Seite betonen. Nationalistinnen und Nationalisten beider Seiten interpretieren die Vergangenheit entsprechend einseitig und versuchen sie für ihre Zwecke zu nutzen. Dabei zeigt die historische Forschung, dass die Mehrheit der slawischen Bevölkerung in der Ukraine sich bis ins 20. Jahrhundert nicht an Nationalitäten orientierte.
Was stiftete damals Identität?
Religiöse Gemeinschaften spielten eine wichtige Rolle, aber primär richteten sich die Menschen in der Ukraine an ihrer Dorfgemeinschaft aus. Das ist nicht ungewöhnlich. Selbst in Ländern wie Frankreich identifizierte sich ein Grossteil der Bevölkerung im späten 19. Jahrhundert nicht über die Nationalität.
Der Nationalismus entstand im 19. Jahrhundert, als Russland und die Ukraine noch zum Zarenreich gehörten. Welche Kräfte begründeten ihn?
Das war eine Bewegung von Intellektuellen. Wie andernorts in Europa entstanden im Zarenreich Strömungen, die sich für Volkskulturen und Sprachen zu interessieren begannen. Daraus entstand in der Ukraine eine moderne Nationalbewegung. Der Adel war nicht begeistert davon, seine Privilegien beruhten auf der Abstammung. Auch die russischen Nationalisten unterstützten das neue ukrainische Selbstverständnis nicht: Sie propagierten die Idee der Dreieinigkeit.
Später setzte sich die Sowjetunion aus Republiken zusammen, wie die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik. Welche Rolle spielte der Nationalismus damals?
Anders als das Zarenreich definierte die Sowjetunion seine Bevölkerung nach Nationalitäten, förderten deren Sprachen und liess den Schulunterricht beispielsweise auf Ukrainisch, Georgisch oder Kasachisch zu. Es entstanden nationale Zugehörigkeiten – ohne politische Autonomie. Nach dem Zerfall der Sowjetunion anerkannte Russland die Ukraine zwar offiziell als eigener Staat. Aber die russische Politik und Teile der Bevölkerung nahmen die ukrainische Souveränität nicht sehr ernst. Das ist bis heute der Fall.
Wie zeigt sich das?
Es gibt in Russland kaum Institute, die sich mit der Ukraine befassen. Es herrscht die Meinung vor, das Land nicht genauer erforschen zu müssen. Entsprechend sind die meisten Russinnen und Russen diesbezüglich schlecht informiert. Auch Putin hat die Situation in der Ukraine völlig falsch eingeschätzt.
Er hat im vergangenen Sommer einen Essay geschrieben, indem er das historische Verhältnis von Russland und der Ukraine beleuchtet. Sie haben seine Rhetorik untersucht. Was fällt auf?
Putins Sprache entspricht exakt jener der russischen Nationalisten des 19. Jahrhundert. Er verwendet historische Begrifflichkeiten für die Ukraine, die zu Sowjetzeiten verpönt waren – so nennt er sie etwa Kleinrussland und die Ukrainer entsprechend Kleinrussen. Des Weiteren betont er die historische Einheit der beiden Völker, die nur wegen ausländischen Intrigen gestört sei. Auch das ist nicht neu: Im 19. Jahrhundert machten russische Nationalisten Österreich, Deutschland oder Polen für die Zwietracht mit der Ukraine verantwortlich. Nun gibt Putin der Nato die Schuld daran.
Kündigte er mit dem Essay bereits den Krieg an?
Zum Zeitpunkt der Erscheinung war völlig unklar, was Putin damit beabsichtigt. Inzwischen muss der Essay als Vorbereitung auf diesen Krieg gelesen werden. Alle Argumente, die Putin heute vorbringt, finden sich darin. Auch die völlig blödsinnige Idee einer Entnazifizierung der Ukraine wird angedeutet.
Wie kommt er darauf?
Die ukrainische Regierung ist weder faschistisch noch nationalsozialistisch. Präsident Selensky ist jüdisch. Er kommt zudem aus einer russischsprachigen Familie und ist immer für den Dialog mit Putin eingetreten. Seit der Sowjetzeit herrscht in Russland aber ein antifaschistischer Mythos, basiert auf dem sowjetischen Sieg über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg. An diesen Diskurs – Russland gegen den Faschismus – knüpft Putin mit seinem Entnazifizierungskurs nun an.
Gibt es historische Belege für faschistische Strömungen in der Ukraine?
Ja, im Zweiten Weltkrieg haben ukrainische Nationalisten mit den Nationalsozialisten kollaboriert und Gewaltverbrechen begangen. In jüngster Vergangenheit rückten ukrainische Rechtsextreme in den Fokus, als sie bei den Maidan-Protesten auf die Barrikaden gingen und Protestierende gegen die Polizei verteidigten. Das konnten sie politisch aber nie ummünzen. Mit zwei Prozent Wähleranteil ist ihr Einfluss auf die parlamentarische Politik marginal. Vor diesem Hintergrund von einer Entnazifizierung zu sprechen ist völlig grotesk. Auch in europäischen Ländern und in Russland gibt es vergleichbare neofaschistische Szenen.
Inwiefern haben die Proteste in Belarus Putins nationalistisches Verständnis erschüttert?
Die russische Regierung will unbedingt verhindern, dass solche Proteste ins eigene Land überschwappen. Deshalb stellt für sie auch die demokratische Ukraine mit einer grossen russischsprachigen Bevölkerung eine Bedrohung dar. Die Demonstrationen in Belarus ab Sommer 2020 und Kasachstan Anfang dieses Jahres haben dies verstärkt, insbesondere weil sich die Protestierenden direkt auf die Ukraine bezogen. Man darf nicht vergessen: Die Menschen aus diesen drei Ländern tauschen sich aus, es gibt viele familiäre Verbindungen.
Was war Putins Reaktion?
Seit den Protesten in Belarus hat er die dortige Kontrolle verstärkt. Präsident Lukaschenko ist inzwischen vollkommen von Putin abhängig. Die Souveränität von Belarus ist so stark beschnitten, wie noch nie seit der Unabhängigkeit.
Putin hat einmal gesagt, er wolle gegen Geschichtslügen vorgehen. Weshalb beschäftigt er sich fast schon obsessiv mit der Vergangenheit?
Es ist nicht neu, dass sich nationalistische und konservative Herrscher in eine bedeutungsvolle Kontinuität zu rücken versuchen. Das Putin-Regime baut sich dafür aus Versatzstücken der sowjetischen und zaristischen Vergangenheit eine Geschichte zusammen, die auf Grösse und Macht beruht. Alles was den russischen Einfluss belegen kann, kommt Putin gelegen. Es will über die Jahrhunderte hinweg Russlands imperiale Grösse demonstrieren. Er befindet sich auf einer historischen Mission.
Ein super Artikel. Es tut gut, ab und zu eine treffende Analyse zu lesen.
Die Krim kam erst nach dem Krimkrieg 1856 zu Russland.
Galizien um Lemberg gehörte bis zum Ende des ersten Weltkriegs zu Österreich-Ungarn, dann zu Polen und erst im Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion. Teil Russlands war es nie.
Putins Anspruch stimmt nicht mal in sich selbst.