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Interview

Russische Soldaten drohen Ukrainern mit Vergewaltigung

Marta Havryshko: In der Ukraine hat sich die Angst vor Übergriffen schnell verbreitet.
Marta Havryshko: In der Ukraine hat sich die Angst vor Übergriffen schnell verbreitet.bild: roland schmid
Interview

Russische Soldaten: «Vergewaltigen euch so lange, bis ihr keine Kinder mehr zeugen wollt»

Die ukrainische Historikerin Marta Havryshko (37) erklärt im Interview, dass Vergewaltigung in der Ukraine zur Kriegsstrategie von Russland gehört. Die öffentlichen Vergewaltigungen traumatisieren die betroffene Frau plus alle Anwesenden, was tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlässt.
21.06.2022, 20:5221.06.2022, 21:15
Annika Bangerter / ch media
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Gehören Vergewaltigungen zur russischen Kriegsstrategie in der Ukraine?
Marta Havryshko:
Ja, die meisten Vergewaltigungen, von denen wir wissen, entsprechen nicht jenen Übergriffen, die wir aus unzähligen Konfliktzonen in anderen Ländern kennen und bei denen Soldaten ihre Machtposition ausnützen. In der Regel versuchen diese danach den Missbrauch zu verheimlichen. Dies, weil sie sich vor einer Bestrafung ihrer Vorgesetzten oder vor der Reaktion der lokalen Bevölkerung fürchten. Dies entspricht aber nicht dem Muster der russischen Soldaten in der Ukraine.

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Wieso nicht?
Überlebende berichten von einer völkermörderischen Sprache der Täter. Beispielsweise haben russische Soldaten in Butscha 25 Mädchen und Frauen zwischen 14- und 24 Jahren in einem Keller festgehalten und sie regelmässig missbraucht. Dabei sagten sie ihnen wiederholt: Wir vergewaltigen euch so lange, bis ihr keine Lust mehr habt, ukrainische Kinder zu zeugen. Auffallend sind zudem die sogenannten öffentlichen Vergewaltigungen.

Was bedeutet hierbei?
Die Soldaten zwingen Familienmitglieder oder Nachbarn, beim Missbrauch anwesend zu sein. Im Krieg gegen die Ukraine fordern sie deren Präsenz richtiggehend ein. Beispielsweise fesseln sie Mütter an Möbel, um sie zu zwingen, den Vergewaltigungen ihrer Kinder zuzuschauen. Ebenfalls wissen wir von Fällen, bei denen russische Soldaten in Schutzräume eingedrungen sind und sich dort vor sämtlichen Schutzsuchenden an Frauen vergingen. Das ist kein neues Phänomen: Öffentliche Vergewaltigungen fanden auch im Zweiten Weltkrieg, in Ruanda oder Jugoslawien statt. Sie sind ein günstiges und gleichzeitig sehr effektives Mittel.

Was ist die Absicht dahinter?
Die Soldaten zeigen ihre Überlegenheit und ihre Macht. Sie traumatisieren die betroffene Frau plus alle Anwesenden. Das hinterlässt tiefe Spuren in einer Gesellschaft. Solche Vergewaltigungen sind auch ein Mittel der Vertreibung. In der Ukraine hat sich die Angst vor Übergriffen schnell verbreitet. Auch für mich war es einer der Gründe, weshalb ich mich entschied, meinen Mann, meine im Sterben liegende Mutter und meine Heimat zu verlassen. Als Historikerin weiss ich, wie Besetzer sich verhalten und kenne die lange Geschichte der sexuellen Gewaltverbrechen russischer Soldaten – etwa in Tschetschenien oder in Afghanistan.

Wer ordnet diese Verbrechen an?
Offiziell niemand, russische Offizielle verneinen alles und sprechen von Fake News. Aber es gibt zahlreiche Beweise: Berichte von Überlebenden und Nachweise von Forensikern, die entsprechende Spuren an Leichen gesichert haben. Die Beweise stammen hauptsächlich aus der Umgebung von Kiew, wo es der ukrainischen Armee gelang, die Russen zurückzudrängen

Gehen Sie davon aus, dass sie dennoch auf einen Befehl zurückgehen?
Ein Dokument, das eine solche Anordnung enthält, ist bislang nicht aufgetaucht. Ich glaube auch nicht, dass die Befehlshaber explizit Vergewaltigungen befohlen haben. Vielmehr vermitteln sie den Soldaten wohl: Macht alles, um eure Aufgabe zu erfüllen – also Gebiete zu besetzen, Menschen zu unterdrücken und den Widerstand zu brechen. Deshalb finden derart viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit statt. Indem kein einziger Soldat für seine sexuellen Gewaltverbrechen bestraft wurde und diese Übergriffe gleichzeitig bekannt sind, kommt dies einer Erlaubnis zum Vergewaltigen gleich.

Inwiefern wird in der Ukraine über diese sexuelle Gewalt gesprochen?
Nach der Befreiung der Gebiete nahe Kiew, berichteten die ukrainischen Medien – gestützt auch auf Angaben der Behörden – umfassend darüber. Die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, aber auch lokale Behörden, feministische Journalistinnen und Aktivistinnen haben viel Kraft eingesetzt, um die Verbrechen bekannt zu machen. Das war sehr wichtig, sonst wären sie unsichtbar geblieben. Anders als bei verwundeten Soldaten sind sie ja nicht offensichtlich. Inzwischen ist eine Phase der Stille eingetreten. Wohin sollen sich Opfer in den besetzten Gebieten auch wenden? Zudem fürchten sie die Rache durch die Besetzer, wenn sie ihr Erlebtes publik machen.

Opfer von sexueller Gewalt schweigen oft auch aus Scham.
Ja, das gilt auch für Betroffene in der Ukraine. Viele Frauen haben Angst vor einer möglichen Ächtung innerhalb ihrer Gemeinschaft. Einige fürchten, dass ihr Ehemann sie verlässt, wenn er von der Vergewaltigung erfahren würde.

Die ukrainische Gesellschaft ist stark patriarchalisch geprägt und Rape Culture ist, wie in vielen anderen Ländern auch, verankert.

Das heisst, es gibt klare Vorstellungen von vermeintlich richtigen Opfern und richtigen Tätern.

Was heisst das?
Es herrschen falsche Vorstellungen vor. Etwa, dass eine Frau sich mit allen Kräften wehren müsse, um eine Vergewaltigung zu verhindern. Frauen reagieren aber ganz unterschiedlich bei einem Übergriff. Viele erleben eine Schockstarre und können sich nicht mehr bewegen. Zudem erfahren Betroffene oft auch Schuldzuweisungen, indem ihnen etwa vorgeworfen wird, vorgängig mit den russischen Soldaten gesprochen oder ihnen zugelächelt zu haben. Das muss unbedingt aufhören. Die Opfer müssen dringend als solche anerkannt werden und Hilfe bekommen.

Bild
Marta Havryshko
Die Ukrainerin Marta Havryshko forscht zu sexueller Gewalt in Kriegen. Als Russland ihre Heimat überfiel, arbeitete die Historikerin gerade an einem Buch über diese Verbrechen während des Holocaust in der Ukraine. Für Havryshko war rasch klar: Sie muss weg. Mit ihrem Sohn und Neffen floh sie in die Schweiz, wo sie nun im Rahmen des Programms «Scholars at Risk» an der Universität Basel ihre Arbeit fortsetzt. Die Berichte und Meldungen über Vergewaltigungen von russischen Soldaten in der Ukraine verfolgt sie genau.

Gibt es professionelle Unterstützung für sie?
Diverse NGOs und Organisationen für Frauenrechte nehmen sich ihnen an. Sie organisieren psychologische, medizinische und rechtliche Hilfe und stellen geschützte Unterkünfte zur Verfügung. Online gibt es zudem sorgfältig aufbereitete Informationen für Opfer von sexueller Gewalt: Wo kann man anrufen? Was tun im Falle einer Schwangerschaft? Wie lassen sich Beweise sichern? Auch eine Hotline für Kinder respektive deren Eltern wurde in Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk Unicef eingerichtet. Viele der Opfer sind Kinder. Das sind wichtige Angebote, gleichzeitig fehlt es aber an vielem.

Inwiefern?
Staatliche Kliniken haben bislang keine spezialisierten Programme eröffnet. Es bräuchte zudem eine kostenlose Abgabe der «Pille danach» - insbesondere in den besetzten Gebieten. Dort sind die traumatisierten Frauen aktuell auf sich gestellt. Zu wenig Beachtung erhalten auch die geflüchteten Frauen. Viele von ihnen leben in Polen, Ungarn oder in der Slowakei, wo sehr restriktive Regeln zu Abtreibungen gelten. Diese Überlebenden von sexueller Gewalt brauchen daher ebenfalls konkrete Hilfe. Etwa mit mobilen Ambulanzen oder Transfermöglichkeiten in ein anderes Land, um eine Abtreibung vorzunehmen.

Was kann die Schweiz tun?
Hier leben viele weibliche Flüchtlinge aus der Ukraine. Sie müssen rasch und einfach erfahren, wo sie Hilfe bei erlebter sexueller Gewalt erhalten. Information über entsprechende Programme sollten weit verbreitet werden und beispielsweise bei der Sozialhilfe oder in Arbeitsämtern aufliegen. Für die psychologische Behandlung ihres Traumas braucht es gut geschulte Fachleute, die Ukrainisch oder Russisch sprechen. Das ist sehr wichtig, damit die Frauen ihr Schweigen brechen und das Erlebte erzählen. Ein anderes Problem sehe ich in der Prostitution, die in der Schweiz legal ist.

Wie meinen Sie das?
Überlebende von sexueller Gewalt sind sehr vulnerabel. Sie sind einfache Ziele von Frauenhändlern oder Freiern. Wir wissen von zahlreichen Studien, dass Frauen, die sexuell missbraucht worden sind, relativ einfach in die Prostitution rutschen. Sie bestrafen sich damit, weil sie sich beschmutzt und schuldig für den Übergriff fühlen. Vor der Prostitution müssen sie beschützt werden, sonst verstärkt diese ihr Trauma.

Historikerin Marta Havryshko: Überlebende von sexueller Gewalt sind einfache Ziele von Frauenhändlern oder Freiern.
Historikerin Marta Havryshko: Überlebende von sexueller Gewalt sind einfache Ziele von Frauenhändlern oder Freiern.bild: roland schmid

Wie lässt sich das verhindern?
Indem sie einen echten Job erhalten. Das gibt ihnen Würde und gleichzeitig auch die notwendigen Mittel, um ihre Familie zu Hause finanziell zu unterstützen.

Sind in der Ukraine auch Fälle von vergewaltigten Männern bekannt?
Ja, die meisten betreffen Knaben, aber es gibt auch einige Erwachsene. Ein homosexueller Mann wurde beispielsweise an einem Checkpoint vergewaltigt. Wir wissen zudem aus dem früheren Krieg im Donbass, dass gefangene ukrainische Soldaten sexuell gefoltert, teilweise auch kastriert worden sind. Sehr wahrscheinlich geschieht dies auch heute noch. Stark von Vergewaltigen sind aber Frauen und Mädchen betroffen. Insbesondere bei den öffentlichen Vergewaltigungen wählen die Täter sehr junge Opfer aus. Sie symbolisieren Jungfräulichkeit und künftige Mutterschaft, worauf die Schänder abzielen.

Wird genug getan, um Beweise für die sexuelle Gewalt im Krieg gegen die Ukraine zu sichern?
Die ukrainische Regierung ist sehr daran interessiert, die verübte sexuelle Gewalt zu dokumentieren. Damit lässt sich die Brutalität der russischen Soldaten aufzeigen, gerade wenn die Opfer noch Kinder sind. Auch internationale Organisationen inklusive der UN sind involviert in der Beweissicherung dieser Gewaltverbrechen. (aargauerzeitung.ch)

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132 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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G. Laube
21.06.2022 21:26registriert April 2020
🇷🇺 🤢🤮… ich konnte diesen Artikel nicht zu Ende lesen… diese Spezies kann man jedenfalls nicht mehr als Menschen bezeichnen!
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Halimasch
21.06.2022 21:42registriert Oktober 2016
Barbarisch! Die Ukraine braucht die volle Unterstützung durch den Westen!
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G.
21.06.2022 21:56registriert Dezember 2014
Das einzige was Putler und sein Gesindel damit erreichen, wird eine abgrundtiefe Ablehnung sein.

Ich könnte auch von einem abgrundtiefen Hass schreiben, der seinesgleichen suchen dürfte.

Und unter den hiesigen Kommentarschreibern gibt‘s immer noch solche, die der Überzeugung sind, der Westen seie schuld an Putlers und seines Gesindels gebaren

Hört doch einfach mal auf die Schuld in einer Vergangenheit zu suchen

Putler ist noch nicht mal ein Staatsoberhaupt, sondern eine kriminelle Gestalt sondergleichen.
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