Frau Mathis, am Donnerstag kam es in Frankreich zu grossen Ausschreitungen. Wie ist die aktuelle Stimmung?
Mirjam Mathis: Die Stimmung ist sehr angespannt. Das schon seit letzter Woche, als die Regierung die Rentenreform durchgeboxt hat. Ab da fingen auch die gewalttätigen Auseinandersetzungen an. Die Gewalt kommt vorwiegend von Jugendlichen. Junge Menschen, die nicht mehr wissen, was sie gegen die Rentenreform unternehmen können. Denn es gab schon zuvor viele grosse Demonstrationen, die aber zu nichts geführt haben. Und am Donnerstag nahmen auch viele Mitglieder des Schwarzen Blocks an den Demonstrationen teil.
Aber auch die Polizei war gewalttätig.
Ja. Es ist eine schwierige Situation: Einerseits hat es viele Demonstrierende, darunter auch gewalttätige, und andererseits sieht man, dass die Polizei in Frankreich hart durchgreift.
Spannend an den Protesten in Frankreich ist, dass so viele verschiedene Menschen demonstrieren.
Es geht mittlerweile um mehr als nur um die Rentenreform. Man kritisiert hier auch einen ganzen Regierungsstil. Es ist zwar legal, den Verfassungsartikel 49.3 einzusetzen, jedoch ist es nicht üblich, so grosse Entscheidungen und Geschäfte damit umzusetzen. Das ist das besondere an der Rentenreform und schockiert auch viele Menschen.
Aber warum protestieren sie denn überhaupt? Das Rentenalter in Frankreich ist im Vergleich zu anderen Ländern in Europa doch sehr tief. Und es gibt eine 35-Stunden-Woche.
Diese Situation werden wir in der Schweiz wohl nie ganz nachvollziehen können. Frankreich reagiert sehr sensibel auf dieses Thema. Das Rentenalter ist bei ihnen eine heilige Kuh. Was wir aber beachten müssen: Das Rentenalter in Frankreich geht nicht automatisch von 62 Jahren auf 64 Jahre. Bevor man in Frankreich in die Rente gehen kann, muss man 43 Jahre lang arbeiten und pro Trimester bezahlen. Mit 67 Jahren darf man dann ohnehin in Rente gehen. Auch wenn man nicht 43 Jahre lang Rentenbeiträge bezahlt hat. Das ist gesetzlich so geregelt.
Glauben Sie, es hätte einen Unterschied gemacht, wenn die Rentenreform in der Assemblée nationale verabschiedet worden wäre?
Das wäre sehr interessant zu wissen. Falls es aber dann zu einem «Ja» gekommen wäre, wäre die Bewegung wahrscheinlich ausgelaufen. Denn man hat es schon in den vergangenen Wochen gesehen: Die Streiks waren nicht mehr gross und die Demonstrationen wurden kleiner. Man wäre am Abend sicher noch demonstrieren gegangen, aber schlussendlich hätte man den Entscheid wohl akzeptiert.
Waren viele dafür, den Verfassungsartikel durchzubringen oder war das alleine Macrons Entscheidung?
Bis ins Lager von Macron hat man davor gewarnt, den Artikel in die Rentenreform einzuberufen. Denn der Widerstand auf den Strassen war enorm. Als der Verfassungsartikel dann angenommen wurde, fanden das auch die Abgeordneten von Macron nicht lustig. Schlussendlich wollte Macron das Risiko aber nicht eingehen. Darum hat er auch bis am Schluss gewartet und Stimmen im Parlament gesammelt. Als er merkte, dass viele gegen die Rentenreform waren, hat er den Artikel dann trotzdem durchgeboxt. Jetzt kommt natürlich die Frage hoch: Was ist das für eine Demokratie?
Kann Macron jetzt einfach normal weiter regieren?
Grundsätzlich ja. Macron will auch eigentlich weitermachen wie bisher. Wären da nicht die ganzen Proteste und Demonstrationen. Auch König Charles hat seinen Besuch aufgrund dessen abgesagt. Jetzt kommt die Frage hoch: Wie geht er damit um? Denn der Entscheid von König Charles betrifft Macron direkt. Vielleicht merkt er jetzt, dass er nicht ein Staatsdinner für den König in Versailles machen kann und gleichzeitig die Bevölkerung auf den Strassen demonstrieren. Gleichzeitig bekommt er auch viel Druck von den Stadtpräsidenten und Stadtpräsidentinnen. Zum Beispiel von Anne Hildago, die Stadtpräsidentin von Paris. Auch sie fordert, dass Macron endlich etwas unternehmen muss und die Reform zurückziehen soll.
Was geschieht als Nächstes? Hat Frankreich einen Plan?
Nein, einen Plan hat man wohl nicht. Dafür viele Sorgen und Ängste, dass die Situation noch mehr eskaliert. Es sieht nicht aus, dass die Proteste aufhören werden. Aber was genau passieren wird, kann man nicht sagen. Ausser Macron zieht die Reform zurück. Dann würde sich bestimmt etwas ändern.
Daher macht es für Junge Sinn, wenn das Rentenalter so schnell wie möglich erhöht wird.