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Interview

Interview zu Protesten: «Die Rente in Frankreich ist eine heilige Kuh»

Protesters run amid the tear gas during a demonstration in Lyon, central France, Thursday, March 23, 2023. French unions are holding their first mass demonstrations Thursday since President Emmanuel M ...
Die Demonstrationen am Donnerstag eskalierten. Die Polizei setzte Tränengas ein.Bild: AP
Interview

«Die Rente in Frankreich ist eine heilige Kuh»

Am Donnerstag kam es in Frankreich zu heftigen Protesten. Die Polizei griff gewaltsam durch. Wie ist die Stimmung am Tag danach? Wie geht es in Frankreich weiter? Wird sich die Lage beruhigen? Frankreich-Korrespondentin Mirjam Mathis schätzt die Situation für watson ein.
24.03.2023, 20:0025.03.2023, 13:45
Lea Oetiker
Lea Oetiker
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Frau Mathis, am Donnerstag kam es in Frankreich zu grossen Ausschreitungen. Wie ist die aktuelle Stimmung?
Mirjam Mathis: Die Stimmung ist sehr angespannt. Das schon seit letzter Woche, als die Regierung die Rentenreform durchgeboxt hat. Ab da fingen auch die gewalttätigen Auseinandersetzungen an. Die Gewalt kommt vorwiegend von Jugendlichen. Junge Menschen, die nicht mehr wissen, was sie gegen die Rentenreform unternehmen können. Denn es gab schon zuvor viele grosse Demonstrationen, die aber zu nichts geführt haben. Und am Donnerstag nahmen auch viele Mitglieder des Schwarzen Blocks an den Demonstrationen teil.

SRF-Korrespondentin Mirjam Mathis.
SRF-Korrespondentin Mirjam Mathis.bild: srf

Aber auch die Polizei war gewalttätig.
Ja. Es ist eine schwierige Situation: Einerseits hat es viele Demonstrierende, darunter auch gewalttätige, und andererseits sieht man, dass die Polizei in Frankreich hart durchgreift.

«Die Polizei in Frankreich greift stärker ein als sonst.»
«Die Polizei in Frankreich greift stärker ein als sonst.»bild: keystone

Spannend an den Protesten in Frankreich ist, dass so viele verschiedene Menschen demonstrieren.
Es geht mittlerweile um mehr als nur um die Rentenreform. Man kritisiert hier auch einen ganzen Regierungsstil. Es ist zwar legal, den Verfassungsartikel 49.3 einzusetzen, jedoch ist es nicht üblich, so grosse Entscheidungen und Geschäfte damit umzusetzen. Das ist das besondere an der Rentenreform und schockiert auch viele Menschen.

Aber warum protestieren sie denn überhaupt? Das Rentenalter in Frankreich ist im Vergleich zu anderen Ländern in Europa doch sehr tief. Und es gibt eine 35-Stunden-Woche.
Diese Situation werden wir in der Schweiz wohl nie ganz nachvollziehen können. Frankreich reagiert sehr sensibel auf dieses Thema. Das Rentenalter ist bei ihnen eine heilige Kuh. Was wir aber beachten müssen: Das Rentenalter in Frankreich geht nicht automatisch von 62 Jahren auf 64 Jahre. Bevor man in Frankreich in die Rente gehen kann, muss man 43 Jahre lang arbeiten und pro Trimester bezahlen. Mit 67 Jahren darf man dann ohnehin in Rente gehen. Auch wenn man nicht 43 Jahre lang Rentenbeiträge bezahlt hat. Das ist gesetzlich so geregelt.

Über eine Million Menschen waren am Donnerstag in Frankreich protestieren.
Über eine Million Menschen waren am Donnerstag in Frankreich protestieren.bild: keystone

Glauben Sie, es hätte einen Unterschied gemacht, wenn die Rentenreform in der Assemblée nationale verabschiedet worden wäre?
Das wäre sehr interessant zu wissen. Falls es aber dann zu einem «Ja» gekommen wäre, wäre die Bewegung wahrscheinlich ausgelaufen. Denn man hat es schon in den vergangenen Wochen gesehen: Die Streiks waren nicht mehr gross und die Demonstrationen wurden kleiner. Man wäre am Abend sicher noch demonstrieren gegangen, aber schlussendlich hätte man den Entscheid wohl akzeptiert.

Waren viele dafür, den Verfassungsartikel durchzubringen oder war das alleine Macrons Entscheidung?
Bis ins Lager von Macron hat man davor gewarnt, den Artikel in die Rentenreform einzuberufen. Denn der Widerstand auf den Strassen war enorm. Als der Verfassungsartikel dann angenommen wurde, fanden das auch die Abgeordneten von Macron nicht lustig. Schlussendlich wollte Macron das Risiko aber nicht eingehen. Darum hat er auch bis am Schluss gewartet und Stimmen im Parlament gesammelt. Als er merkte, dass viele gegen die Rentenreform waren, hat er den Artikel dann trotzdem durchgeboxt. Jetzt kommt natürlich die Frage hoch: Was ist das für eine Demokratie?

Emmanuel Macron steht unter Druck.
Emmanuel Macron steht unter Druck. bild: keystone

Kann Macron jetzt einfach normal weiter regieren?
Grundsätzlich ja. Macron will auch eigentlich weitermachen wie bisher. Wären da nicht die ganzen Proteste und Demonstrationen. Auch König Charles hat seinen Besuch aufgrund dessen abgesagt. Jetzt kommt die Frage hoch: Wie geht er damit um? Denn der Entscheid von König Charles betrifft Macron direkt. Vielleicht merkt er jetzt, dass er nicht ein Staatsdinner für den König in Versailles machen kann und gleichzeitig die Bevölkerung auf den Strassen demonstrieren. Gleichzeitig bekommt er auch viel Druck von den Stadtpräsidenten und Stadtpräsidentinnen. Zum Beispiel von Anne Hildago, die Stadtpräsidentin von Paris. Auch sie fordert, dass Macron endlich etwas unternehmen muss und die Reform zurückziehen soll.

Was geschieht als Nächstes? Hat Frankreich einen Plan?
Nein, einen Plan hat man wohl nicht. Dafür viele Sorgen und Ängste, dass die Situation noch mehr eskaliert. Es sieht nicht aus, dass die Proteste aufhören werden. Aber was genau passieren wird, kann man nicht sagen. Ausser Macron zieht die Reform zurück. Dann würde sich bestimmt etwas ändern.

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23 Kommentare
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Stefan Sowieso
24.03.2023 22:53registriert Juli 2020
Die Gewerkschaften haben diese Kuh schon beinahe geschlachtet. Frührenten, vor allem bei Staatsbetrieben, z.T schon ab 54 haben das Rentensystem nahezu zerstört. Zusammen mit den Banlieus und der Migration wird dies enorme Probleme verursachen. La Grand Nation wird langsam petite.
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3klang
25.03.2023 00:49registriert Juli 2017
Wieso inbesondere Junge gegen die Reform sind kann ich nicht nachvollziehen. Wer Jung ist muss wohl davon ausgehen, dass wenn das Rentenalter nicht jetzt erhöht wird, dass es später passiert, folglich geht man sowieso später in Rente. Wenn man das Ganze aber hinaus zögert wird die Rentenkasse weitere Jahre übermässig belastet, so dass man später evtl sogar noch an die Sanierung zahlen muss.

Daher macht es für Junge Sinn, wenn das Rentenalter so schnell wie möglich erhöht wird.
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