Herr Varwick, kürzlich sagte der amerikanische Aussenminister Antony Blinken, die Ukraine müsse möglicherweise in Verhandlungen über ihre Grenzen eintreten. Setzt sich Ihre Sichtweise langsam durch?
Johannes Varwick: Ich will nicht besserwisserisch wirken, aber tatsächlich habe ich eine solche Entwicklung erwartet. Die Frage für mich war nur, wie viel Blut vergossen werden muss, damit mehr Leute zu dieser Erkenntnis kommen. Jetzt mehren sich die entsprechenden Stimmen, seltsamerweise oft mit einem Grundton, als wäre dies eine neue Erkenntnis.
Also ist der eingefrorene Konflikt, der die Entscheidung über die russisch besetzten Gebiete auf einen späteren Zeitpunkt vertagt, das Beste, worauf wir hoffen können?
Die Vorstellung, es könnte eine Lösung geben, die dauerhaft Stabilität bringt, geht jeden Tag mehr verloren. Möglicherweise wäre dies in den ersten Kriegsmonaten noch möglich gewesen, aber mit jedem Kriegstag hat die Verrohung zugenommen, sodass die Möglichkeit einer Lösung kleiner wurde. Deswegen ist es auch kein Argument, man solle mit Verhandlungen weiter abwarten.
Die Befürworter weiterer Waffenlieferungen sagen, zunächst müsse sich die Ukraine eine bessere Ausgangsposition verschaffen. Ist das unrealistisch oder wäre der Preis aus Ihrer Sicht zu hoch?
Im Krieg ist nichts unmöglich, aber zu testen, ob mit massiveren Waffen jetzt noch eine bessere Verhandlungsposition für die Ukraine herauszuholen ist, scheint mir eine zynische Strategie des Westens zu sein. Dass die Ukraine aus einer möglichst starken Position heraus verhandeln kann, wünsche ich mir auch, aber ich glaube nicht, dass militärisch eine Situation geschaffen werden kann, in der Russland nachgibt. Russland hat die Eskalationsdominanz.
Manche fürchten sogar einen Atomkrieg. Ist das realistisch? Setzt Russland Atomwaffen ein, riskiert es die eigene Vernichtung.
Ein Atomkrieg ist unwahrscheinlich, aber eben auch nicht ausgeschlossen. In seiner nuklearen Doktrin sagt Russland klar, unter welchen Bedingungen es Atomwaffen einsetzen würde. Eine der Bedingungen ist, dass eine existenzielle Gefährdung für Russland besteht, und eine Niederlage in der Ukraine definiert Moskau als solche Gefährdung.
Wer den Atomkrieg fürchtet, tappt in Putins Falle.
Nein, ich betrachte Realitäten der internationalen Politik. Vermutlich funktioniert die Abschreckungslogik, aber es kann eben auch sein, dass sie nicht funktioniert. Dies mit einzupreisen, gehört zu einer verantwortlichen Politik.
Sie lehnen die Lieferung von Kampfpanzern ab, sind aber nicht gegen sämtliche Waffenlieferungen. Was sollte der Westen liefern oder anders gefragt: Die Erreichung welcher Ziele sollte er der Ukraine ermöglichen?
Die Frage nach den Zielen ist entscheidend. Jede militärische Logik braucht einen politischen Zweck. Im Moment scheint mir aber kein erreichbarer Zweck mit den Waffenlieferungen verbunden zu sein. Ich bin dafür, dass sich die Ukraine verteidigen kann. Gegen die Lieferung von Luftabwehrraketen, Gepard-Panzern oder Panzerhaubitzen habe ich nichts einzuwenden. Aber die Lieferung von Kampfpanzern und -Flugzeugen halte ich für eine gefährliche Rutschbahn. Die Vorstellung, die Ukraine könne Russland besiegen, ist unrealistisch.
Das Ziel müsste also sein, dass die Ukraine ihre jetzige Position halten kann?
Viele Experten tun so, als wüssten sie, was Russland will. Aber wir wissen es nicht. Wenn es Russlands Ziel ist, die gesamte Ukraine zu erobern, können wir das nicht zulassen. Aber wenn es um die vier Oblaste geht, die Moskau perfiderweise zu einem Teil seines Staatsgebiets erklärt hat, müssen wir darüber verhandeln. Nicht in dem Sinne, dass man Russland die Gebiete schenkt, aber vielleicht im Sinne eines Einfrierens. Das ist bitter. Wenn Grenzen verschoben werden, ist das ein Tabubruch, der einen Preis haben muss.
Worin bestünde der Preis?
Die Sanktionen schaden Russlands Wirtschaft bereits jetzt massiv. Ein Einfrieren des Konflikts würde nicht bedeuten, dass Russland gewonnen hätte, und das müssten wir in der internationalen Diskussion herausstreichen. Wir müssten aber auch versuchen, legitime russische Sicherheitsinteressen von solchen zu unterscheiden, die nicht legitim sind. Ein legitimes Interesse Russlands ist, dass kein gegnerisches Bündnis an seine Grenze reicht. Die Ukraine war in Russlands Lesart immer ein Sonderfall. Das Angebot an Kiew, der Nato beizutreten, war ein Fehler.
Wäre die Ukraine Nato-Mitglied, hätte es den Krieg wohl nie gegeben.
Darüber gehen die Ansichten auseinander: Vielleicht hätte es bereits vor einer geplanten Aufnahme in die Nato einen Krieg gegeben. Dass Russland keinen Nato-Staat angreift, ist wahrscheinlich richtig. Aber den Willen, bereits vor einem Beitritt für die Ukraine in den Krieg zu ziehen, gab es im Westen nie. So entstand eine geopolitische Grauzone, und das ist nie gut.
Läuft Ihre Position nicht darauf hinaus, dass Russland und der Westen über die Köpfe der Ukrainer hinweg entscheiden?
Ich bin für mehr Ehrlichkeit: Wir haben andere Interessen als die Ukraine und sollten diese auch wahrnehmen. Es gibt keinen Fall, in dem wir sagen: Ein Staat X muss seine Interessen 100-prozentig durchsetzen und wir unterstützen alles, was dieser Staat macht. Warum soll das im Fall der Ukraine anders sein? Es ist richtig, der Ukraine zu helfen, aber schon jetzt nehmen wir bei unserer Unterstützung eine Abstufung vor, etwa indem wir ausschliessen, eigene Soldaten zu entsenden.
Auch eine neutrale Ukraine, wie Sie Ihnen vorschwebt, bräuchte westliche Sicherheitsgarantien, sonst würden die Ukrainer nie in Verhandlungen eintreten.
Selbstverständlich. Eine neutrale Ukraine wäre keine schutzlose oder demilitarisierte Ukraine, aber eben ein Land, das nicht eindeutig in die westlichen Bündnisse integriert wird. Aber eine solche Lösung wird immer schwieriger, weil die Ukrainer verständlicherweise finden, die vielen Opfer, die sie bereits jetzt zu beklagen haben, sollten nicht umsonst gewesen sein. Es braucht also Druck von aussen. Die Ukraine ist abhängig von westlicher Unterstützung. Wenn der Westen dies will, wird sie sich zu Positionen durchringen müssen, die ihr möglicherweise nicht gefallen. Aber die Vorstellung, die Ukraine könne allein entscheiden, ist nicht von dieser Welt.
Kann man mit Putin überhaupt noch verhandeln, nach all dem, was geschehen ist?
Natürlich hat sich Putin als vertrauenswürdiger Partner diskreditiert, aber die Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof halte ich für einen Fehler, denn mit einem angeklagten Kriegsverbrecher kann man kaum noch verhandeln. Es wäre schön, einen respektableren Verhandlungspartner zu haben, aber wir müssen nun einmal mit dem Russland umgehen, das da ist.
Wenn ich die deutsche Debatte über den Krieg betrachte, fällt mir eine enorme Unerbittlichkeit auf. Manche werfen Ihnen vor, Sie steckten mit Putin unter einer Decke.
Ich bin schon überrascht, wie wenig man bereit ist, sich mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen und wie schnell man in eine falsche Ecke gestellt wird. Das bekümmert mich, denn eine Demokratie lebt von der offenen Debatte. Stattdessen werden kritische Stimmen als Putin-Propagandisten diffamiert.
Aus der Debatte ausgeschlossen werden Sie aber nicht. Sie sind immer wieder im Fernsehen.
Ja, aber ich habe dort die Rolle des Quoten-Abweichlers, auf den alle eindreschen. Mir macht das nichts aus, aber es spricht nicht für unsere Debattenkultur. Ich habe noch keine Talkshow erlebt, in der zwei gegen zwei standen; es waren immer drei oder vier gegen einen.
Sonst würde man Ihnen womöglich Verbündete beigesellen, die Sie lieber nicht haben wollten.
Beifall von der falschen Seite ist auch für mich ein Problem, aber ich habe mir angewöhnt, Dinge unabhängig zu analysieren und nicht darauf zu schauen, wen ich damit erfreue oder verprelle. Das ist die Aufgabe eines Wissenschafters. Wer mir zustimmt, kann ich mir nicht aussuchen. Wenn ich bei Podiumsdiskussionen mit dem Publikum ins Gespräch komme, ist das Meinungsbild übrigens ein ganz anderes als in den Talkshows.
Sie haben zunächst das Manifest von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht unterschrieben, Ihre Unterschrift dann aber zurückgezogen. War nicht absehbar, dass man mit manchen Unterzeichnern lieber nicht in einem Atemzug genannt werden will?
Im Rückblick war es ein Fehler, den ich auch aus einer inneren Zerrissenheit heraus gemacht habe. Aber in Fragen von Krieg und Frieden sollte man sich eine innere Zerrissenheit leisten können. Welches Süppchen insbesondere Frau Wagenknecht mit dieser Initiative kocht, habe ich falsch eingeschätzt. Diesen Fehler habe ich korrigiert. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Kommt es vor, dass sich Kollegen von Ihnen abwenden?
Viele meiner etablierten Netzwerke in Parteien, Stiftungen oder Think-Tanks liegen auf Eis. Teilweise werde ich nicht mehr eingeladen. Ich jammere darüber nicht, ich stelle das nur fest. Ich kann mir eine abweichende Meinung leisten, denn ich habe eine unbefristete Stelle. Aber wenn Kollegen, die sich in einer früheren Phase ihrer Karriere befinden, einen Kopf kürzer gemacht werden, führt das dazu, dass sie schweigen. Viele sagen mir, es sei gut, dass ich mich äussere, sie selbst täten das lieber nicht.
Tut man sich in anderen Ländern leichter mit abweichenden Meinungen?
In Deutschland ist diese Intoleranz sicher ausgeprägter; in den USA debattiert man hart in der Sache, aber gepflegt im Ton, auch wenn das nicht dazu geführt hat, dass die Politik der USA eine andere wäre.
Warum sind Ihre Landsleute so unerbittlich?
Deutschland hat endlich einmal das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, und völlig falsch ist das ja auch nicht. Aber es fällt den Deutschen schwer, Mass zu halten. Früher waren viele die besten Pazifisten, jetzt sind die gleichen die grössten Bellizisten. (aargauerzeitung.ch)
Es würde mich nicht wundern, dass dadurch weitere Regierungen auf den Geschmack kommen, neue Expansionspläne in die Tat umzusetzen. China wartet ab um zu sehen, ob Russland mit ihrer Aggressionspolitik erfolg hat.
Es gibt nur eine richtige Antwort auf Länder mit Ausdehnungsgelüste. Keine Verhandlungen und kein entgegenkommen.