Zuletzt schien es fast so, als ob reichlich Sand ins Verhandlungsgetriebe zwischen der Schweiz und der EU gekommen wäre. Doch Michel Barnier, wohl Brüssels gewieftester Unterhändler und gefeierter Mr. Brexit, gibt im Gespräch Entwarnung. Er zeigt sich am Rande des Industrietags in Bern, wo er als Gastreferent eingeladen war, zuversichtlich, dass bis Ende Jahr eine Lösung gefunden werden kann. Und er warnt die Schweiz davor, mit ihren Verhandlungen zuzuwarten, bis in Grossbritannien, Deutschland und Frankreich neue Parteien an die Macht kommen.
Frankreich wählt am Sonntag ein neues Parlament. Wem werden Sie Ihre Stimme geben?
Michel Barnier: Ich werde in meinem Wahlkreis in Savoyen für Vincent Rolland stimmen, den Abgeordneten der Republikaner. Es ist eine Partei mit einer grossen Geschichte, die Partei des Gaullismus, die bereit ist, mit allen Kräften zusammenzuarbeiten, die unser Land reformieren wollen. Aber nicht mit den Extremen.
Die extreme Rechte dürfte aber die Wahlen gewinnen.
Die extreme Rechte macht falsche Versprechen. Wir sollten, solange noch Zeit ist, die französischen Lehren aus dem Brexit zu ziehen. Die Briten haben acht Jahre Vorsprung auf uns. Vor acht Jahren stimmten sie für den Brexit – nach einer populistischen Lügenkampagne, die jener ähnelt, die wir heute in Frankreich sehen. Ich warne: Der Brexit war unwahrscheinlich. Und doch ist das Unwahrscheinliche eingetreten. Wir befinden uns in Frankreich in einem gefährlichen Moment.
Wie konnte es in Frankreich so weit kommen?
Wir haben nicht mehr auf das Volk gehört. Das ist der Fehler des französischen Staatspräsidenten in den letzten sieben Jahren. Wir müssen wieder auf die Menschen hören. In vielen Regionen sagen die Menschen, dass sie das Gefühl haben, im Stich gelassen zu werden.
Von wem genau?
Von den staatlichen Behörden. Ich habe vor drei Jahren ein Buch geschrieben: «Das geheime Brexit-Tagebuch». Das erste Kapitel heisst «Das Gefühl der Verlassenheit». Dieses Gefühl ist in vielen Regionen Grossbritanniens, aber auch bei uns stark ausgeprägt. Und das hat Folgen. Die Anzahl Stimmen für Marine Le Pen ist von konkreten Faktoren abhängig. Sie steigt mit der steigenden Arbeitslosigkeit, mit der steigenden Entfernung zum nächsten Arzt und zum nächsten Bahnhof. Wir müssen zuhören und die Sorgen der Menschen verstehen – und konkrete Antworten finden. Das ist dringend nötig.
Auch die EU tut sich schwer mit Antworten, wenn man die Ergebnisse der Europa-Wahlen anschaut. Das Herz Europas – Deutschland, Frankreich, Italien – ist sehr weit nach rechts gerückt. Geert Wilders hat in den Niederlanden mit einem antieuropäischen Programm gewonnen.
Wir leben in einem paradoxen Moment für die Europäische Union. In den letzten 15 Jahren haben wir grosse Krisen gemeistert: die Finanzkrise, Covid, den Brexit. Jede dieser existenziellen Krisen hätte die Union sprengen können. Wir sind mit dem Rücken zur Wand gestanden und gestärkt aus den Krisen hervorgegangen. Ich glaube daher, dass die Menschen in all unseren Ländern, auch in Frankreich, überzeugt sind, dass es besser ist, zusammenzuarbeiten. Das erklärt auch, wieso die Europäische Volkspartei erneut und gestärkt als grösste Partei aus den Wahlen hervorgegangen ist. Es gibt noch immer eine stabile Mehrheit im Europäischen Parlament.
Die EU kann also Ihrer Ansicht nach einfach weitermachen wie bis anhin?
Nein. Wir haben begonnen, die Lehren aus dem Brexit zu ziehen: Wir sind in der Handelspolitik weniger naiv, führen mehr Grenzkontrollen durch und haben uns endlich zu einer gemeinsamen, europäischen Industriepolitik durchgerungen. Wir investierten jetzt 750 Milliarden Euro. Das ist nicht nichts.
Aber was muss sich ändern, um die EU den Bürgern und Bürgerinnen näherzubringen?
Wir müssen den Menschen wieder ins Zentrum des europäischen Projekts stellen. Die Politik muss sich wieder um die grossen, politischen Linien kümmern, nicht nur um die kleinen Dinge. In den vergangenen Jahren hat die Bürokratie die Macht übernommen. Das ist nicht gut. Und das sagt auch viel über die Politiker aus: Denn wenn die Bürokraten die Macht übernehmen, dann nur, weil die Politiker sie ihnen überlassen.
Aber Hand aufs Herz: Es ist doch letztlich die Personenfreizügigkeit, die hohe Zuwanderung, welche die Menschen gegen die EU aufbringt und den Weg ebnet für die rechtsextremen Parteien.
Sie irren sich. In keinem einzigen Land wurde die Freizügigkeit, die eine der vier Freiheiten der Europäischen Union ist, infrage gestellt. Wir sollten nicht die Verwirrung stiften, die auch Nigel Farage im Vereinigten Königreich absichtlich herbeigeführt hat, indem er die Menschen belogen hat: Niemand stellt die Freizügigkeit innerhalb der EU infrage. Stattdessen werden Grenzkontrollen und weniger Zuwanderung aus Drittländern gefordert.
Wilders bester Trumpf bei den Wahlen war die Wohnungsnot infolge der Einwanderung, auch aus anderen EU-Staaten.
Der Migrationsdruck auf den Wohnungsmarkt geht nicht von EU-Bürgern aus, sondern von Einwanderern, die von ausserhalb der EU kommen. Schauen wir auf die Schweiz: Gemäss den Zahlen von 2023 sind 150'000 Menschen in die Schweiz eingewandert, 40 Prozent davon aus der EU, 40 Prozent aus der Ukraine und 20 Prozent aus dem Rest der Welt. Die grosse Mehrheit kommt also nicht aus der Europäischen Union.
Glauben Sie wirklich, dass die Bürger für sich selbst Vorteile in der Personenfreizügigkeit erkennen?
Die Menschen können sehr wohl unterscheiden zwischen der Wirtschaftsmigration aus Afrika, die besser kontrolliert und – wo nötig – auch gestoppt werden muss, und der Personenfreizügigkeit für EU-Bürger, die eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts ist. Diese darf nicht angetastet werden.
In der Schweiz sind aber auch Klagen zu hören von Menschen, die einen Job oder eine Wohnung wegen eines deutschen Konkurrenten nicht erhalten haben.
Ich höre die Ängste der Schweizer Gewerkschaften und die Forderung, dass es keine Rückschritte beim Lohnschutz geben darf. In den Sondierungsgesprächen hat die EU bereits Garantien gegeben, dass es hier keinen Rückschritt geben kann und dass der Status quo gesichert ist. Man kann einen Weg finden, um diejenigen zu beruhigen, die beruhigt werden müssen – und gleichzeitig die Personenfreizügigkeit akzeptieren.
Das einzige Land, das sich regelmässig in Volksabstimmungen zu diesem Thema geäussert hat, ist die Schweiz. Mehrmals hat das Volk den Bilateralen und damit der Personenfreizügigkeit zugestimmt. Möglich war das nur dank der Lohnschutzmassnahmen. Warum bekämpft die EU diese?
Die Verhandlungen sind im Gange und ich werde mich nicht einmischen. Grundsätzlich aber ist die Freizügigkeit eine der vier Freiheiten des Binnenmarkts, der viel mehr als eine Freihandelszone. Der Hauptgrund, warum Europa in China und den USA noch immer respektiert wird, ist der Binnenmarkt – das ist unsere Stärke. Deshalb war ich in den Verhandlungen mit den Briten so kompromisslos. Und deshalb wünsche ich mir die Schweiz als Partner, die durch ihre Nähe zu uns so viel beizutragen und auch zu gewinnen hat.
Allerdings sind die Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel schwierig. Der zuständige EU-Kommissar, Maros Sefcovic, verzichtete soeben darauf, in die Schweiz zu kommen, weil die Gespräche nicht schnell genug vorankommen.
Ich kenne den Begriff des «ausreichenden Fortschritts» gut, schliesslich habe ich ihn in den Verhandlungen mit den Briten geprägt. Man sollte diese Entscheidung von Maros Sefcovic nicht überinterpretieren. Ich würde aber empfehlen, nicht vom Common Understanding, dem Ergebnis der Sondierungsgespräche, abzuweichen – und versuchen, noch vor Jahresende einen Abschluss zu erzielen. Aber es muss ein Abkommen sein, von dem alle profitieren.
Sie sind ein sehr erfahrener Verhandlungsführer. Welchen Rat würden Sie dem Bundesrat geben?
Ich habe keine Lektionen zu erteilen. Die Franzosen sind manchmal arrogant, selbst wenn sie es nicht sein wollen. Ich kann aus meinen Brexit-Erfahrungen die Schweizer Behörden nur ermutigen, die Diskussionen mit der EU transparent zu führen.
Wie meinen Sie das?
Die Transparenz war einer der Schlüssel zur Einheit der EU bei den Brexit-Verhandlungen, und es war ein Schlüssel für einen erfolgreichen Abschluss. Ich hatte beschlossen, allen immer alles zu sagen und immer zum gleichen Zeitpunkt. So wurden die 27 Mitgliedsstaaten gleichzeitig über alle Schritte informiert, ebenso wie das Europäische Parlament. So gab es keine Überraschungen. Ich denke, dass die Schweizer Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände, die Gewerkschaften, die politischen Parteien und Kantone spüren müssen, dass sie in diesen Verhandlungen respektiert werden. Man muss die Dinge beim Namen nennen, denn das Volk ist intelligent.
Ist die Schweiz für Brüssel noch von Interesse, falls die Partei von Marine Le Pen in Frankreich die Macht übernehmen kann?
Ja, aber deshalb empfehle ich, dringend noch vor Ende des Jahres zu einem Abschluss bei den Verhandlungen zu kommen. Man sollte nicht auf eine mögliche neue Regierung setzen – und auch nicht abwarten, was in Deutschland passiert oder in Grossbritannien. Auch wenn die Briten nach den Wahlen in zwei Wochen versuchen sollten, ihren Fall an jenen der Schweiz zu knüpfen.
Die Schweiz sieht sich gerne als Sonderfall. Wird sie in Brüssel so gesehen?
Die Schweiz ist kein Land wie jedes andere, wir stehen uns seit langem nahe. Ich werde so viel wie möglich dafür arbeiten, dass mit der Schweiz eine echte, dauerhafte Partnerschaft gefestigt wird. Denn die Welt ist gefährlich, instabil und zerbrechlich geworden. Es wird mehr Krisen und mehr Handelskriege geben. Was passiert, wenn ein neuer US-Präsident einen Handelskrieg mit China anzettelt? Welche Auswirkungen hat das auf Europa?
Sie sagen es: Was passiert, wenn Donald Trump gewählt wird?
Persönlich hoffe ich das wirklich nicht. Trump ist der erste US-Präsident seit Beginn des europäischen Aufbauwerks im Jahr 1954, der die EU kritisiert hat, anstatt sie zu unterstützen. Es gibt also nichts, was man von Herrn Trump erwarten kann. Die Möglichkeit seiner Wahl macht deutlich: Was die Europäer nicht für sich selber tun, wird auch niemand für sie tun.
Derzeit wird die militärische Sicherheit der Europäer noch von den Amerikanern gewährleistet. Der Krieg in der Ukraine verändert diese Situation. Was sollte geändert werden?
Wir müssen in der Atlantischen Allianz, der Nato, bleiben. Wir brauchen dieses Bündnis mit den USA. Es ist von grundlegender Bedeutung. Parallel dazu muss jedoch ein eigenständiger und solidarischer europäischer Pfeiler aufgebaut werden. Wir brauchen innerhalb Europas eine strukturierte Zusammenarbeit im militärischen Bereich. Wir waren auf der kommerziellen Ebene naiv und beginnen, es weniger zu sein. Nun müssen wir auch auf militärischer Ebene weniger naiv sein. Wir müssen uns schützen, weil auch die anderen Mächte sich schützen.
Was ist mit Grossbritannien?
Die Briten müssen hier dabei sein, nicht nur bei der Verteidigung, sondern auch in der Aussenpolitik. Für eine Lösung des Konflikts zwischen Israel und der Hamas braucht man England. Ich hatte Boris Johnson vorgeschlagen, bei den Brexit-Verhandlungen ein Abkommen über Aussenpolitik und Verteidigung zu schliessen. Er sagte zuerst ja, änderte dann aber seine Meinung – und wollte dann nichts mehr davon wissen.
In Kürze beginnen in Paris die Olympischen Spiele. Glauben Sie, dass diese Veranstaltung etwas in dem Land verändern kann?
Olympische Spiele sind immer positiv. Unsere Länder müssen den Ehrgeiz behalten, grosse Veranstaltungen auszurichten. Wir heissen die Welt willkommen. Ich hoffe, dass es in Frankreich genügend nationale politische Intelligenz gibt, um die Spiele vor politischen Turbulenzen zu bewahren und sie erfolgreich durchzuführen. Es ist eine Frage der Ehre für unser Land.
Verfolgen Sie die Fussball-Europameisterschaft?
Ja, ich fand etwa die letzte Minute im Spiel zwischen Italien und Kroatien grossartig. Es war magisch, aber auch hart, denn Sport ist hart. Ich finde diese Momente der gemeinsamen Emotionen sehr wichtig. Möge die beste Mannschaft gewinnen.
Drücken Sie nicht Frankreich die Daumen?
Doch natürlich. Viel hängt hier auch von Kylian Mbappé ab.
Der nun auch zum Politiker geworden ist.
Nein, es ist ein Bürger, der sagt, was er denkt. Und das ist sein gutes Recht. Und er sagt es würdig und intelligent.
Wie sieht eigentlich Ihre politische Zukunft aus?
Meine politische Zukunft liegt dort, wo ich am nützlichsten sein kann, solange ich die körperliche Kraft und die Fähigkeit dazu habe. Ich halte an meinen Überzeugungen fest. Ich wurde mit 22 Jahren in Savoyen in mein erstes Amt gewählt. Mit 73 Jahren frage ich mich: «Habe ich noch die gleiche Fähigkeit, mich zu begeistern oder zu empören?» Die Antwort lautet: Ja. Wenn ich diese Fähigkeit verliere, höre ich auf. (aargauerzeitung.ch)
Der Verwaltungsapparat tendiert in der Tat dazu, seine Macht auf leisen Sohlen Jahr für Jahr und Amtsperiode für Amtsperiode auszubauen. Wenn es der Politik nicht gelingt, dagegenzuhalten, kommt es irgendwann zum Knall und das Volk geht wir in Argentinien mit der Kettensäge dahinter.
Und das rechtfertigt dann, Extremisten zu wählen? Ja sicher, mit denen wird dann alles besser, da spriessen die Bahnhöfe und Arztpraxen nur so aus dem Boden. Ernsthaft, Leute?
Doch. Die billigen Arbeiter aus dem Osten der EU war der Grund für den Brexit.
Aber schön verdreht.