Ultraorthodoxe feiern zu elektronischer Musik, als gäbe es kein Morgen mehr. Schläfenlocken wirbeln herum. Konfetti fliegt durch die Luft. Viele müssen ihre Kippa vor lauter Herumgetanze festhalten, damit sie nicht zu Boden fällt.
Es ist ein unorthodoxes Bild von orthodoxen Juden, das «Der Muzikant» regelmässig in den sozialen Medien vermittelt.
Der Musikant? Der DJ, der in konservativem Umfeld für elektrisierende Stimmung sorgt? Nein. Trotz Singular handelt es sich beim «Muzikant» nicht um eine Einzelperson, sondern um eine ganze Gemeinschaft an Musikanten, die ins Leben gerufen wurde, um die jüdische Musikindustrie auf den Kopf zu stellen.
Doch nicht nur. In den sozialen Medien verblüffen die Musiker weit mehr als nur konservative Kreise. Einige Musikvideos zählen über 30 Millionen Klicks. Mehr als 100'000 Personen verfolgen auf Instagram, wie «Der Muzikant» die Stimmung von orthodoxen Juden ordentlich anheizt.
Das sieht dann so aus:
Oder so:
Der Gründer Levy Mayer hatte eine Marktlücke erkannt – und wagte den Spagat zwischen Tradition und Moderne. Mit watson blickt Mayer auf die Entstehung der stetig wachsenden Gemeinschaft, die Hürden – und in die Glaskugel.
Levy Mayer hatte schon immer eine Vorliebe für jüdische Musik. Der 20-Jährige wuchs in einer grossen jüdisch-orthodoxen Gemeinde in New York auf. In der Metropolregion rund um den Big Apple leben rund 2 Millionen Juden. Es ist eine der grössten jüdischen Diasporagemeinden.
Die jüdische Musik ist hauptsächlich religiös geprägt – elektronische Töne kannte man Mayer zufolge bei jüdischen Veranstaltungen vor dem Durchbruch von «Der Muzikant» noch nicht. Zumindest nicht auf Hebräisch oder Jiddisch.
Der Geistesblitz zur Gründung einer Musikgemeinschaft, welche die jüdische Musikindustrie verändern sollte, entsprang Mayer vor nicht allzu langer Zeit – während der Pandemie im Jahr 2021. Mit seinem Freund Dov habe er über eine mögliche Pioniertat sinniert. Schnell kam er auf die Idee, traditionelle Musik mit elektronischen Beats zu vermischen. Dann ging alles sehr schnell.
Mayer gründete die Gemeinschaft alleine – zu diesem Zeitpunkt war er 18 Jahre alt. Mehrere Stunden pro Tag habe er versucht, Kontakte mit Musikern zu knüpfen und ein Konzept zu erstellen. Die investierte Zeit zahlte sich aus.
In kürzester Zeit sei es ihm gelungen, einen Künstlerstamm aufzubauen. Wie? Mit dem Versprechen, dass er das Image der Musiker durch den Aufbau und die Verwaltung von Social-Media-Profilen aufwerten kann – und ihnen Dienstleistungen wie öffentliche Auftritte anbieten könne.
Fehlte noch ein Name. Mayer wählte einen jiddischen – «Der Muzikant» unterscheidet sich nur wenig von der deutschen Übersetzung «der Musiker». Denn: Die beiden westgermanischen Sprachen sind eng miteinander verwandt. Jiddisch wird vor allem von ultraorthodoxen Juden gesprochen.
Mittlerweile besteht die Gemeinschaft aus über 70 Musikern (Sänger, DJs, Produzenten) sowie aus drei Chören, die alle getrennt voneinander arbeiten. Jeder kreiere seine eigenen Songs und Beats. Manchmal entstehe auch eine Zusammenarbeit. «Die Originalsongs werden manchmal von einem Musiker konzipiert und später von einem anderen Musiker geremixt», so Mayer.
«Wir arbeiten derzeit mit 35 Sängern, 37 Muzikanten, 5 Bands, 5 DJs und 3 Chören. Wir arbeiten auch mit mehreren Ton- und Lichtfirmen zusammen. Der Preis für eine Aufführung liegt zwischen 1200 und 7500 US-Dollar. Abhängig vom Musiker/Sänger und Dauer der Veranstaltung. Der durchschnittliche Preis beträgt 2200 $ pro Veranstaltung.»
Er betont, dass die Künstler nicht nur elektronische Musik produzieren, sondern auch Klassiker. Das Konzept ist einfach: «Wenn ein jüdischer Musiker die musikalische Bühne betreten möchte, kommt er zu uns und wir sorgen dafür, dass er die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient.»
So bekommen Jungtalente eine Chance an öffentlichen Events aufzutreten, die vielfach von Fotografen begleitet werden, um die Inhalte in den sozialen Medien zu verbreiten.
Einer der berühmten Köpfe hinter «Der Muzikant» ist Lipa Schmeltzer – auch bekannt als Lady Gaga der modernen chassidischen Musik. Auch er entstammt einer jüdischen Gemeinde aus New York und verschmelzt traditionelle chassidische Musik mit zeitgenössischen Musikrichtungen wie Pop und Rock.
Die Musiker treten an jüdischen Hochzeiten und privaten Veranstaltungen auf. Zwischen fünf und zehn Auftritte pro Tag verbuche Mayer. Pro Tag.
Die Gemeinschaft bestehe hauptsächlich aus Musikern aus New York und New Jersey, die in den ganzen USA herumreisen. Zu den gefragtesten Auftrittsorten zählen Los Angeles und Miami. Doch auch aus Israel gebe es viele Anfragen. Einige Künstler, die dem Projekt zugehören, leben im Gelobten Land.
Einem Kredo bleibt die Gemeinschaft treu:
Veranstaltungen von Männern für Männer – dieser Eindruck entsteht, wenn man sich die Videos von «Der Muzikant» anschaut. Nie ist eine Frau zu sehen. Levy Mayer erklärt: «Bei fast allen unseren Veranstaltungen gibt es eine Mechitza [Vorrichtung zur räumlichen Trennung der Geschlechter] zwischen Männern und Frauen.»
«Der Muzikant» hält sich streng an die Richtlinien der Tora und Halacha. Aus Respekt und Gründen der Religion veröffentliche man nur die männliche Seite der Party.
Ultraorthodoxe Juden lehnen westliche Werte oftmals ab. Auf Ablehnung sei Mayer mit seinem Konzept aber noch nie gestossen. Bislang habe er nur positive Feedbacks erhalten, wie: «Danke, dass du eine positive Vision von unserer Welt verbreitest» oder «Die Welt muss das sehen, um zu realisieren, dass die ganze Propaganda über uns völlig falsch ist».
Zu kämpfen hatte Mayer stattdessen mit etwas anderem: «Es gab ein paar Leute, die versuchten, mit uns zu konkurrieren, in dem sie unser Konzept kopierten. Das Gute: Nach ein paar Monaten hatten sie damit aufgegeben.»
Mayer meint, den Grund dafür zu kennen: «Ich glaube, Social Media ist nicht jedermanns Sache. Man spürt die Ergebnisse nicht sofort. Die meisten Menschen sind nun mal nicht bereit, auf etwas hinzuarbeiten, sondern wollen sofort Ergebnisse sehen.» Auch er musste erst geduldig sein und habe in den ersten zehn Monaten kein Geld verdient.
Inzwischen hat «Der Muzikant» mehrere Einnahmequellen: durch die Auftritte, durch Social Media und durch Merchandising. Viele der Musiker hätten keinen Nebenjob, da sie genug mit ihren Auftritten verdienen. Der Preis für eine Aufführung liegt zwischen 1200 und 7500 US-Dollar.
Den grössten musikalischen Erfolg erzielte «Der Muzikant» nicht etwa mit einem Song, sondern mit einem Intro. Doch für Mayer ist das Video nicht nur aufgrund der Klickzahlen das erfolgreichste:
Das Video, das durch die Decke ging:
Wie gelang dieser Social-Media-Coup? Levy Mayer verrät: «Zu Beginn setzte ich auf Kurzvideos. Später produzierte ich Langformat-Videos. Monatelang habe ich achtminütige Videos auf YouTube geteilt, um ein neues Publikum zu erreichen. So ist eins zum anderen gekommen.»
Mayer, der selbst noch keinen Song veröffentlichte, hat weitere Pläne. Auf der Checkliste steht unter anderem die Gründung eines Musiklabels – das Projekt «Der Muzikant» ist noch keine offizielle Marke. Ein weiterer Punkt auf der Liste: Sowohl die Community in den sozialen Medien als auch die Künstlergemeinschaft sollen weiter wachsen.
Das Ziel bleibe das gleiche: «Das unpopuläre Talent jüdischer Musiker zu fördern.»
«Bei fast allen unseren Veranstaltungen gibt es eine Mechitza [Vorrichtung zur räumlichen Trennung der Geschlechter] zwischen Männern und Frauen.»
Naja ... zumindest ein Teil davon scheint nicht völlig falsch.