Der Kinofilm «Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse» ist der Kassenschlager schlechthin. Drei Wochen nach seiner Premiere haben bisher über 130'000 Zuschauer die Geschichte vom orthodoxen Juden Motti Wolkenbruch mitverfolgt, der sich in die Schickse (Nichtjüdin) Laura verliebt.
Der Film sorgt schweizweit für Gesprächsstoff. Orthodoxe Juden würden sich stören an der Aussage des Films, liest man in der «Aargauer Zeitung». «Spassiges Juden-Bashing», schreibt die NZZ. Und sogar das SRF widmete dem Werk von Regisseur Michael Steiner eine «Club»-Sendung mit dem Titel «Wolkenbruch und die Schicke: Ist Lachen über Juden harmlos?»
watson hat ein junges, modern-orthodox lebendes jüdisches Paar getroffen, das sich bei einem Schidduch, einem arrangierten Treffen, kennen gelernt hat. Zweieinhalb Wochen nach dem ersten Treffen haben sich Ilana und Chaim Lipschitz verlobt. Fünf Monate später waren sie verheiratet. Das ist jetzt fünf Jahre her. Heute sind die beiden 26 und nicht mehr nur zu zweit. Vor vier Monaten kam ihr erster gemeinsamer Sohn Elischa zur Welt. Und «Wolkenbruch»? Den haben sie gesehen. In den Arena Cinemas im Einkaufszentrum Sihlcity.
«Der Film hat uns wirklich gut gefallen», sagen die beiden unisono und bitten aus dem kahlen Treppenhaus in ihre gemütlich eingerichtete Wohnung im Zürcher Kreis 2. Das Museum Rietberg ist in Gehdistanz, ebenso die Synagoge der israelitischen Religionsgemeinschaft.
Mit einem Dokumentarfilm sei Wolkenbruch keineswegs zu verwechseln, zu dramaturgisch zugespitzt die Geschichte, zu übertrieben die Charaktere. «Aber man geht ja auch nicht einen James-Bond-Film schauen und hat danach das Gefühl, das sei tatsächlich das wahre Agentenleben», sagt Chaim Lipschitz nüchtern. Über viele Szenen mussten sie lachen. «Wir fahren tatsächlich alle das gleiche Auto. Früher, als ich einen Toyota Previa sah, blickte ich immer hinein, um zu sehen, ob jemand von unserer Gemeinschaft drinsitzt, den ich kenne», schmunzelt Ilana.
Kurz darauf wird sie ernster. Es geht um das Kennenlernen des Paars. «Unser erstes Treffen machte keinen Spass. Ein Schidduch ist immer sehr formell», erzählt Ilana Lipschitz ohne Umschweife. Die 26-Jährige wirkt sehr reif. Vielleicht liegt es daran, dass sie bereits mit 21 Jahren den Bund der Ehe schloss. In einem Alter, in dem die meisten Gleichaltrigen alles andere tun, als an die Ehe zu denken. Unter ihrer dunklen Perücke zeigt sich ein noch dunklerer Haaransatz. Behutsam drückt sie den kleinen Elischa an ihre Brust. Er wird den ganzen Abend über ruhig in ihren Armen liegen.
Verkuppelt wurden Ilana und Chaim Lipschitz, anders als im Spielfilm «Wolkenbruch», nicht von ihren Müttern, sondern von einer Matchmakerin. Die jüdische Verkupplerin kannte Ilanas und Chaims Familien – und deren unverheiratete Kinder. Mit der Verkupplungs-Idee kontaktierte sie Ilanas und Chaims Eltern. Diese begannen darauf mit ausgiebigen Nachforschungen über die Heiratswilligen. Nach Auffassung der Thora soll der Mann den Charakter der potentiellen Partnerin prüfen.
Familiensituation, Herkunft, heutzutage auch die Blutgruppe – nichts wird dem Zufall überlassen. Erst wenn die Recherchephase durch die Eltern abgeschlossen ist, kommt es zum effektiven Treffen. Bei Ilana und Chaim war das an einem warmen Maitag in der Hotellobby des Zürcher Hyatts.
Bei der Filmfigur Motti Wolkenbruch ist dessen Nervosität und Unbehagen nur zu gut spürbar. Chaim Lipschitz lacht: «Da war der Film gar nicht so weit weg von der Realität.» Natürlich sei es auch immer eine Typfrage, wie nervös man sei. «Es ist aber schon eher ein unangenehmes Gefühl, auf dieses Treffen zu gehen. Du kennst die Person nicht, weisst nicht, was auf dich zukommt – und es geht immer um viel.» Um sehr viel sogar. Ein Schidduch ist vergleichbar mit einem Bewerbungsgespräch – einem Bewerbungsgespräch für die Ehe.
Zwei intensive Gesprächsstunden später kehren Ilana und Chaim zu ihren Familien zurück, um Bericht zu erstatten. Sie überlegen sich, ob ihre Zukunftspläne kompatibel sind. Ihre Entscheidungen werden der Matchmakerin mitgeteilt. Ilana und Chaim wollen weitermachen. Und treffen sich gleich am nächsten Tag wieder. Kontakt dazwischen haben sie nicht miteinander. Auch berühren dürfen sie sich nicht. Kein Handschlag, keine Umarmung zur Begrüssung.
Zu etwas gezwungen gefühlt habe sie sich dabei nie, sagt Ilana Lipschitz. «Der Druck von Mottis Mutter im Film ist schon enorm. Das war bei mir ganz anders.» Sie wurde von Anfang an in den Schidduch-Prozess miteinbezogen, konnte mitbestimmen und falls nötig auch den Stecker ziehen. Und dennoch – für Nicht-Gläubige ist ein Schidduch schwer zu verstehen. Wer geht schon an sein allererstes Date, mit der Absicht heiratswürdiges Material zu finden? Und wer wartet bis zur Heirat, um seinen Partner nur schon berühren zu können?
Ilana Lipschitz versucht zu erklären. «Wir werden schon im Kindesalter vom anderen Geschlecht getrennt. Die Mädchen gehen in eine andere Schule als die Buben. Das sorgt dafür, dass wir gar nicht erst in Versuchung kommen, Lust zu verspüren.» Natürlich habe auch sie ab und zu ihre Schwierigkeiten gehabt. Damals als sie als Jugendliche eine Banklehre absolvierte und in Kontakt mit der säkularen Welt kam. Doch sie blieb dem Judentum treu. «Klar, sind die vielen Regeln und Vorschriften sehr anspruchsvoll. Aber dann sieht man den Sinn dieses Lebens und der Religion wieder. Schliesslich möchte man sich und seine Familie nicht enttäuschen.»
Ihr zweites Treffen verlief ähnlich wie das erste. Für Ilana war es immer noch etwas steif und zu formell. «Ich wollte nicht mehr einfach nur dasitzen, etwas trinken und reden. Ich wollte etwas unternehmen.» Sie schlägt das Luzerner Verkehrsmuseum als dritten Treffpunkt vor. Chaim sagt über seine Eltern zu. «Das dritte Treffen war toll», erinnert sich Ilana mit einem Lächeln auf den Lippen.
Fünf Monate und zweieinhalb Wochen später sind die beiden verheiratet. Ilana hätte gerne noch etwas mehr Zeit vor der Hochzeit gehabt. Doch der Wunsch, einander endlich näherzukommen, sich zu berühren, war grösser. «Das hat uns gepusht, uns schneller zu verloben und zu heiraten.» Mit 21 war es dann so weit: Sie gaben sich das Ja-Wort. «Viele meiner Schulkolleginnen waren mit 19 schon verheiratet», sagt Ilana lachend. «Aber das war für mich zu früh.»
Chaim pflichtet seiner Frau bei. Er sei religiöser aufgewachsen als Ilana, erzählt er. Sechs Jahre lang verbrachte er mit dem Studium des Talmuds, des bedeutendsten Schriftwerks des Judentums. Von morgens neun Uhr bis abends spät, manchmal zehn Stunden am Tag sass er vor den religiösen Schriften. Für Chaim war das manchmal schwierig. Gewiss, die Religion zu studieren gehöre dazu und sei auch sehr interessant. «Manchmal hätte ich aber gerne auch noch etwas anderes gelernt, etwas mehr von der Welt gesehen – und gearbeitet.»
Das tut er heute – zusammen mit Ilana. Beide arbeiten, sie auf einer Bank, er als Verkäufer. Die Kindererziehung teilen sie sich auf. Die Liebe habe Zeit gebraucht, um zu wachsen, erklärt Ilana Lipschitz. «Bei der Hochzeit glaubten wir, es handle sich bereits um Liebe. Aber erst jetzt, nach fünf Jahren, wissen wir, was wahre Liebe wirklich bedeutet.»
Die Gebote und Verbote der Thora sind tief in ihrem Alltag verankert. Nach jedem Toilettengang wird gebetet, jeden Freitag, kurz vor Sonnenuntergang wird das Licht gelöscht. Während des Sabbats bleiben in der Familie Lipschitz die Handys in den Taschen, die Fernbedienung unberührt, ja sogar der Kühlschrank schaltet in den Sabbat-Modus. Denn streng gläubigen Juden ist es in dieser heiligen Zeit, vergleichbar mit dem christlichen Sonntag, verboten, elektrische Geräte an- und auszuschalten.
Ilana und Chaim Lipschitz bezeichnen sich als modern-orthodoxe Juden. Bei vielen Geboten haben sie einen Mittelweg gefunden. Beim Skifahren trägt Ilana Hosen. «Ein Rock wäre gefährlich, der würde meine Bewegungsfreiheit einschränken». Beim Sport zieht sie kurzärmlige Shirts an – ebenfalls aus praktischen Gründen. Und die Milch aus dem Sabbat-Kühlschrank stammt von der Migros, nicht von einem koscheren Laden.
In diesem Moment meldet sich der kleine Elischa in ihren Armen zum ersten Mal. Er hat Hunger. Ilana wuselt in die Küche, um die Milch aufzuwärmen. Es ist Zeit zu gehen. Ilana und Chaim Lipschitz sind in vielen Belangen wie all die anderen Mittzwanziger – und doch leben sie ein ganz anderes Leben. Ein Leben, mit strikten Regeln, dessen Ablauf mehr oder weniger vorgeschrieben ist. Ein Leben, aus dem sie nicht ausbrechen können – oder wollen. Doch sie wirken glücklich. «Wir möchten ein Leben führen, das Sinn ergibt. Und das tut es», sagt Ilana Lipschitz zum Abschied und schliesst die Tür. Im Türrahmen glänzt die Mesusa. Eine metallische Schriftkapsel, die jedem, der sie gebührend ehrt, ein längeres und reicheres Leben verspricht.
Wer mehr über die jüdischen Bräuche, den Schidduch, die arrangierte Heirat und die damit verbundenen Pflichten erfahren möchte, dem sei dieses Buch empfohlen.