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Angriff auf Gaza: Israelische Anti-Terror-Expertin im Interview

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«Es gibt 30'000 Terroristen im Gazastreifen – man muss rein und sie finden»

Eine Bodenoffensive im Gazastreifen sei wahrscheinlich, sagt die Ex-Offizierin der israelischen Streitkräfte Miri Eisin im Interview. Dass alle der über 100 Geiseln der Hamas lebend geborgen werden können, glaubt sie nicht.
12.10.2023, 15:43
Fabian Hock / ch media
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Israelische Soldaten nahe der Grenze zum Gazastreifen: Die Vorbereitungen für eine Bodenoffensive laufen.
Israelische Soldaten nahe der Grenze zum Gazastreifen: Die Vorbereitungen für eine Bodenoffensive laufen.Bild: Ohad Zwigenberg/AP

Miri Eisin diente mehr als zwei Jahrzehnte im Nachrichtendienst des israelischen Militärs. Als eine von wenigen Frauen erreichte sie den Rang des Obersts (Colonel). Während des Ausbruchs des Libanon-Kriegs 2006 arbeitete sie für den damaligen Premierminister Ehud Olmert als Beraterin. Die heute 60-Jährige ist Direktorin des International Institute for Counter-Terrorism in Tel Aviv.

Miri Eisin
Miri Eisin.Bild: zvg

Es laufen Vorbereitungen für eine Bodenoffensive der israelischen Armee in den Gazastreifen. Wird die Armee tatsächlich einmarschieren?
MIRI EISIN: Ich denke, ja. Die Art des beispiellosen Terror-Massakers der Hamas hat deren wahres Gesicht gezeigt. Wir müssen zu allen Zellen und Terroristen der Hamas gelangen, zu ihrer gesamten Infrastruktur. Das geht nur mit einer Bodenoffensive. Das bedeutet nicht, den gesamten Gazastreifen zu erobern. Aber es bedeutet mit Sicherheit ein systematisches Vordringen in das Gebiet.​

Wann wird diese Offensive beginnen? Sprechen wir über Stunden, Tage?
Ich weiss es nicht. Möglicherweise Tage.​

Was ist von dem Einsatz zu erwarten?
Israel hat die Fähigkeit, bis zum Herzen der Hamas – ich will es gar nicht Herz nennen, denn sie sind unmenschlich, also bis zum Mittelpunkt der Terroristen im Gazastreifen vorzudringen. Es sind 30'000 Terroristen im Gazastreifen. Das ist keine neue Zahl, das sagen wir schon lange. Rund 2000 haben Israel am Samstag angegriffen. Über 1000 von ihnen wurden dabei in Israel getötet. Es werden immer noch welche im Land gefunden. Man hört jetzt nicht einfach auf und erlaubt den restlichen herumzusitzen und sich selbst an ihrer barbarischen Attacke zu berauschen. Man muss rein und sie finden.​

Die Hamas hält über 100 Geiseln im Gazastreifen. Ist es möglich, sie zu befreien?
Die realistische Antwort ist: nein. Das wird ein zentraler Teil der Bodenoffensive sein. Es geht darum, zu den Terroristen zu gelangen. Die Topterroristen werden so nah an den Geiseln bleiben, wie sie können. Dort fühlen sie sich am besten geschützt.​

Israel hat keine Absichten, den Gazastreifen erneut zu besetzen.
Das haben wir nicht. 2,2 Millionen Menschen leben im Gazastreifen. Es ist kein leeres Gebiet, das von aussen durch Terroristen besetzt wurde. Es gibt dort 30'000 Hamas-Terroristen, die Zahl habe ich unzählige Male genannt über die letzten 15 Jahre. Hamas hat 2007 die Macht übernommen. Sie sind nicht nur dort eingebettet, sie sind Teil der Gesellschaft. Es geht nicht darum, das Gebiet zu besetzen, sondern hineinzugehen, sie zu finden, und wieder rauszugehen.​

Was passiert danach?
Ich kann im Moment noch nicht an den Tag danach denken. Noch sind die Terroristen dort, und sie sind bereit, uns anzugreifen. Hamas hat dazu aufgerufen, am Freitag Jerusalem einzunehmen.​

Das Ziel ist nun also, Hamas komplett zu zerstören?
Ich möchte ganz deutlich sein: Man kann Terrororganisationen nicht vollständig auslöschen oder eliminieren. Zwischen 2015 und 2017 hat die gesamte internationale Gemeinschaft, inklusive Russland und Iran zu dieser Zeit, versucht, den IS auszulöschen. Sie schafften es nicht. Wir müssen aber etwas tun. Es könnte ähnlich ausfallen wie die damalige Aktion gegen den IS. Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass man es schafft, Hamas vollständig zu eliminieren. Aber ja, das muss getan werden.​

Israel droht neben der Hamas im Süden eine zweite durch die Hisbollah aus dem Libanon im Norden. Wie gefährlich ist sie?
Die Hisbollah ist zehnmal stärker als die Hamas. Der Unterschied ist, dass wir uns gegen diese Bedrohung seit vielen Jahren wappnen. Was Hamas nun getan hat, ist eigentlich das Hisbollah-Szenario. Wir hatten das von der Hisbollah erwartet und nicht von der Hamas. Obwohl wir wussten, dass die Hamas dazu in der Lage ist. Die Gefahr ist zehn Mal grösser, aber wir sind ganz anders darauf vorbereitet. Die Hisbollah kann 1000 Raketen pro Stunde abschiessen. Sie verfügen über 150'000 Raketen insgesamt. Laut unserem Militär hat die Hisbollah in den letzten fünf Tagen rund 5000 Raketen auf Israel geschossen. Sie können das 150 Tage lang machen.​

Gegen die Bedrohung der Hisbollah: Israelische Truppen an der Grenze zum Libanon im Norden.
Gegen die Bedrohung der Hisbollah: Israelische Truppen an der Grenze zum Libanon im Norden.Bild: Gil Eliyahu / AP

Steht ein Grossangriff der Hisbollah unmittelbar bevor?
Ein Angriff steht nicht unmittelbar bevor. In den letzten fünf Tagen haben sie die Stimmung ausgetestet. Mal eine Rakete hier, mal eine Granate dort, sie haben die Palästinenser schiessen lassen und unsere Reaktionen abgewartet. Sie werden aber nicht angreifen, denn wir sind zu gut aufgestellt und zu abwehrbereit. Grausamer als die Hamas könnten sie gar nicht sein. Hisbollah wäre genauso. Nur zehnmal besser ausgestattet.​

Sie waren selbst viele Jahre beim Nachrichtendienst des Militärs. Die grosse Frage zur Attacke vom Samstag: Wie konnte das überhaupt passieren?
Für mich ist das nicht die grosse Frage. Es ist relativ klar. Das Versagen ist dasselbe wie bei 9/11. Wenn man nicht nach etwas Bestimmtem sucht, kann man alle Puzzleteile zusammen haben, aber sieht es trotzdem nicht. In den letzten zwei Jahren hat die Hamas ihr Verhalten gegenüber Israel ganz eindeutig verändert. Wir haben geglaubt, dass sie sich verändert haben. Am Samstag gab es das böse Erwachen. Man kann nicht finden, wonach man nicht sucht. Wir wollten glauben, die Hamas seien keine Terrororganisation mehr. Aber das sind sie, eine barbarische Terrororganisation.​

Müssen wir uns auf einen langen Krieg einstellen?
Ja. Das wird nicht schnell vorbei sein. Die Situation der Geiseln ist unklar. Offen ist auch, ob die Hisbollah eingreifen wird. Es ist nicht so, dass wir stoppen und es damit beenden könnten. Sie werden Raketen auf uns schiessen, solange sie können. (aargauerzeitung.ch)​

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71 Kommentare
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Lienat
12.10.2023 16:59registriert November 2017
30'000 Teroristen die sich in einer Bevölkerung von 2.2 Millionen verstecken? Ein Horrorszenario! Ich kann mir gerade so gar nicht vorstellen, wie man die Terroristen identifizieren soll, ohne dabei Methoden anzuwenden, welche die übrigen 2.17 Millionen Einwohner in die Arme der Terroristen treiben.

Auch wenn ich verstehe oder sogar befürworte, dass Israel hier eingreifen wird: Gut ausgehen wird das ganz bestimmt nicht.
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biketraveller001
12.10.2023 16:00registriert Januar 2018
Und angenommen, sie könnten die 30'000 finden und töten (was nie geschieht), hätten Sie 35'000 neue produziert.
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Macca_the_Alpacca
12.10.2023 15:50registriert Oktober 2021
Ich denke das wird leider extrem schmerzhaft werden.


Ei Rätsel ist es, wie es möglich sein konnte, dass das 1000edne Raketen reingebracht werde konnten (die sind ja nicht grad klein), aber die Leute können nicht raus. Der Tunnel wäre ja wohl derselbe....
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