In der Fassade des 42-stöckigen Hochhauses klaffen grosse Löcher. Die iranische Rakete hat vor allem die untersten Stockwerke schwer beschädigt, doch das Gebäude steht noch. An seinem Fuss liegen heruntergefallene Trümmer. Direkt daneben befindet sich das Hauptquartier der israelischen Streitkräfte. Die Iraner haben ihr Ziel also knapp verfehlt.
500 Meter weiter östlich ragen die Wolkenkratzer des Azrieli-Einkaufszentrums in den Himmel, ein Wahrzeichen von Tel Aviv. Selbst hier haben Druckwelle und herumfliegende Trümmer viele Fensterscheiben zu Bruch gehen lassen. Bauarbeiter auf Kränen bringen nun gelbes Dichtungsmaterial an der beschädigten Fassade an. Vor der Bauabschrankung weht eine israelische Fahne.
Dass der Iran in der Lage war, mit seinen Raketen grosse Schäden in Tel Aviv und anderen Städten anzurichten, ist neu für Israel. «Wir waren alle geschockt», erzählt eine Mitarbeiterin des Nationaltheaters. «Wir verbrachten viel Zeit in den Luftschutzräumen, und jetzt leben wir einfach von Tag zu Tag. Kaum jemand glaubt, dass dieser Schlagabtausch der letzte war.»
Übertroffen wurde der jüngste Schock wohl nur noch durch jenen, den das Pogrom der Hamas vom 7. Oktober 2023 ausgelöst hatte. Das Massaker führte am Ende nicht nur zum Krieg in Gaza und im Libanon, sondern auch zu den Auseinandersetzungen mit Jemen und dem Iran. Die iranischen Angriffe haben mehr als 13’000 Israeli zu Obdachlosen gemacht.
Dass die Sache noch nicht ausgestanden ist, meint auch ein Unternehmer. Er verfügt über ein gutes Beziehungsnetz in israelischen Sicherheitskreisen und will deshalb anonym bleiben: «Dem Waffenstillstand zum Trotz sind wir immer noch im Iran aktiv. Unsere Dienste haben die Schaltstellen der Macht derart unterwandert, dass wir erfahren werden, wenn Teheran den Bau einer Atombombe weiter vorantreibt.» Aber die Waffenpause sei auch für die israelischen Streitkräfte von Vorteil, weil die Kampfjets gewartet werden müssten und nicht pausenlos Einsätze in 1500 Kilometern Distanz fliegen könnten.
Israelische Stellen bemühen sich, die Wirkung der iranischen Lenkwaffen herunterzuspielen. Laut dem Alma Research and Education Center, einer Denkfabrik, hat der Iran während des 12-tägigen Kriegs 525 Raketen auf Israel abgefeuert. Davon seien 86 Prozent abgeschossen worden. Etwas vage bleiben die Angaben zur Zahl der Einschläge in Israel: Es seien 50 bis 60 gewesen, schreibt das Alma-Zentrum. Acht von ihnen töteten insgesamt 28 Menschen; fast 1500 wurden verwundet.
Ohne Zweifel haben die israelischen und amerikanischen Angriffe das iranische Atomprogramm zurückgeworfen. Vielleicht noch wichtiger ist aber, dass die beiden Alliierten bewiesen haben, jederzeit wieder zuschlagen zu können, wenn sie es für nötig halten. Dass die Iraner kein einziges Flugzeug abschiessen, keinen einzigen Piloten gefangen nehmen konnten, ist für Teheran eine Riesenblamage. Aber die von Israel erhoffte Revolution gegen das Mullah-Regime ist ausgeblieben. Nun ist im Iran die Zeit der Vergeltung gekommen, gegen all jene, die im Verdacht stehen, mit den Israeli kollaboriert zu haben.
Nichts kann allerdings darüber hinwegtäuschen, dass Irans Stellung in der Region nun massiv geschwächt ist. Selbst um die vormalige «Achse des Widerstands» – von der Hamas über die libanesische Hisbollah bis hin zu den jemenitischen Huthi und pro-iranischen Milizen im Irak – ist es ruhig geworden. Die Hisbollah feuerte zum Beispiel während der Iran-Krise keine einzige Rakete auf Israel ab. Über die Schwächung der «Widerstandsachse» sind auch Länder wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate glücklich. Ein mit Atombomben bewaffneter Iran wäre für die arabischen Monarchien eine tödliche Bedrohung geworden.
Alle Augen richten sich nun wieder auf den weitgehend zerstörten Gaza-Streifen. Nachdem US-Präsident Trump den israelischen Premier Netanyahu zur Waffenruhe mit dem Iran gezwungen hat, will er nun etwas Ähnliches in Gaza erreichen. Dazu hat er Netanyahu am Montag zu Gesprächen in die USA eingeladen.
Mit Sicherheit wird es dabei auch um einen neuen Anlauf zu einer Friedenslösung in Gaza gehen, angefangen mit einem neuen Waffenstillstand und der Freilassung weiterer Geiseln durch die Hamas. Die grosse Frage ist, ob die Hamas mitspielen wird. Sie braucht die Geiseln als Faustpfand, um der totalen Vernichtung zu entgehen. Allerdings war die Hamas wohl noch nie so schwach wie jetzt.
Dass Israel das Palästinenserhilfswerk der UNO von der Verteilung von humanitärer Hilfe ausgeschlossen hat, entzog der Hamas wichtige Finanzierungsquellen. Ausserdem mischt nun unter anderem die Miliz des Palästinensers Yasser Abu Shabab im Umfeld der Hilfsgüterverteilung mit. Ihr wirft die Hamas Kollaboration mit Israel vor. Das Aufkommen von mit der Hamas rivalisierenden bewaffneten Gruppen könnte ein Indiz dafür sein, dass sich der Gaza-Streifen immer mehr in Richtung Anarchie bewegt.
Trump liess inzwischen verlauten, dass Israel im Grundsatz zu einer 60-tägigen Waffenruhe bereit sei, in der dann weitere Friedensverhandlungen stattfinden könnten. Innenpolitisch steigt der Druck auf Netanyahu, eine Kampfpause zu akzeptieren. Zwei rechtsextreme Minister im Kabinett drohen zwar, die Regierungskoalition platzen zu lassen, falls Netanyahu den Krieg in Gaza nicht fortführe. Gleichzeitig bieten Teile der Opposition dem Premierminister allerdings an, den Wegfall der rechtsextremen Unterstützer durch ihren eigenen Eintritt in die Regierungskoalition zu kompensieren, falls es zu einer Waffenruhe komme.
Die Schuld, dass rund 50 Geiseln, von denen mehr als die Hälfte inzwischen vermutlich tot ist, immer noch in Gaza sind, schieben grosse Teile der israelischen Öffentlichkeit der Regierung zu. Sollte es tatsächlich zu einem Frieden im Küstenstreifen kommen, könnte dies zu der von Trump gewünschten Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien, Syrien und Libanon führen. Das entspräche einer kompletten Neuordnung des Nahen Ostens.
In Israel sind derweil viele Juden auch über das Ausmass der iranischen Unterwanderung ihres Landes schockiert. So wurden kürzlich mutmassliche Spione festgenommen, aber nicht etwa arabische Israeli, sondern insgesamt fünf Juden, die in Verdacht stehen, mit iranischen Geheimdiensten kollaboriert zu haben. Sie seien vor allem über soziale Medien angeworben worden und hätten sich bezahlen lassen.
Unter den Verhafteten befindet sich auch ein Pärchen aus Ra’anana nordöstlich von Tel Aviv. Nir David, der Anwalt der beiden, erklärte am Telefon allerdings, dass es für die Vorwürfe von Polizei und Inlandsgeheimdienst nicht den Hauch eines Beweises gebe.
Die Linke ist im Dilemma, denn man kann nicht für Friede sein und das Ziel der Entkolonialisierung mittels Gewalt beibehalten. Der Preis des Friedens ist der Verzicht auf "from the River to the Sea" und auf ein Rückkehrrecht nach Israel.
Gebt endlich die restlichen Geiseln zurück. Tot, aber lieber lebendig.
Danach kann die Aufarbeitung beginnen. Die sogenannte Neuordnung wird hoffentlich auf allen Seiten die Schuldigen benennen und aus dem Verkehr ziehen.
Es braucht vernünftige, modern orientierte Menschen.
Es ist Zeit für Gespräche, Kompromisse, Aufbau, Zusammenarbeit und den Beginn für eine neue Ära.