Israels Regierung will nach der Veröffentlichung verstörender Videoaufnahmen von der Entführung fünf israelischer Soldatinnen die Gespräche über eine Freilassung aller noch im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln wieder aufnehmen. Das Kriegskabinett wies das Verhandlungsteam an, die Bemühungen um eine Freilassung der Entführten fortzusetzen, berichteten israelische Medien in der Nacht zum Donnerstag unter Verweis auf eine Erklärung des Büros von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Währenddessen protestierten in Tel Aviv und in Jerusalem Tausende von Menschen und forderten die sofortige Freilassung der Geiseln, die während des Hamas-Massakers am 7. Oktober verschleppt worden waren. Die Familien der Entführten riefen die israelische Regierung dazu auf, «nicht einen einzigen Moment mehr zu vergeuden» und sofort an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Die aktuellen Entwicklungen im Liveticker:
Unterdessen hat Ägypten mit dem Rückzug von seiner Rolle als Vermittler im Gaza-Krieg zwischen Israel und der islamistischen Hamas gedroht. Andauernde Versuche, die ägyptischen Vermittlungsbemühungen und die Rolle Ägyptens mit falschen Behauptungen in Zweifel zu ziehen, würden die Situation im Gazastreifen und in der gesamten Region nur weiter verkomplizieren, erklärte Diaa Rashwan, Chef des staatlichen ägyptischen Informationsdienstes, am Mittwochabend in einer in sozialen Medien verbreiteten Mitteilung. Dies könne «die ägyptische Seite zu der Entscheidung veranlassen, sich vollständig aus der Vermittlungstätigkeit in dem Konflikt zurückzuziehen». Er reagierte damit auf einen CNN-Bericht, wonach der ägyptische Geheimdienst einen von Israel akzeptierten Vorschlag für eine Waffenruhe ohne Rücksprache mit den anderen Vermittlern geändert haben soll.
Da Israel und die Hamas nicht direkt miteinander verhandeln, fungieren Ägypten, Katar und die USA als Vermittler. Ägyptens Geheimdienst soll dem US-Sender CNN zufolge im Stillen den von Israel zuvor bereits akzeptierten Vorschlag für eine Waffenruhe geändert und um weitere Forderungen der Hamas ergänzt haben. Als die Islamisten einer Vereinbarung am 6. Mai zustimmten, habe diese nicht dem Vorschlag entsprochen, von dem die anderen Vermittler dachten, dass er der Hamas zur Prüfung vorgelegt worden sei, berichtete der Sender unter Berufung auf drei mit den Beratungen vertraute, namentlich nicht genannte Personen. Der Vorfall habe für enormen Ärger gesorgt und die Gespräche in die Sackgasse geführt.
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach unterdessen mit dem israelischen Verteidigungsminister Joav Galant über die Lage an den Grenzübergängen Rafah und Kerem Schalom im Süden des Gazastreifens, wie das Pentagon mitteilte. Austin habe den Verbündeten aufgerufen, die Gespräche mit Ägypten über eine Wiederöffnung des Grenzübergangs Rafah und den Fluss von Hilfsgütern aus Ägypten über Kerem Schalom zu einem Ergebnis zu führen. Rafah ist nach der kürzlichen Übernahme der palästinensischen Seite durch Israels Armee geschlossen. Ägypten habe darauf bestanden, dass die Lieferungen erst wieder aufgenommen werden könnten, wenn die palästinensische Seite des Übergangs wieder unter palästinensischer Kontrolle stehe, schrieb die «Times of Israel».
Ägypten soll zudem Lieferungen über Kerem Schalom gestoppt haben. Die Ägypter wollten nach der Übernahme der palästinensischen Seite des Übergangs in Rafah durch die Israelis nicht als deren Komplize erscheinen, indem nun stattdessen die Hilfe über Karem Schalom laufe, schrieb «Politico». Kerem Schalom liegt etwa drei Kilometer von Rafah entfernt. Austin habe gegenüber Galant die dringende Notwendigkeit betont, die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen über alle verfügbaren Grenzübergänge zu verstärken, teilte das Pentagon mit.
Israels Vorstoss in Rafah hat nach Darstellung der US-Regierung bislang nicht das Ausmass erreicht, vor dem sie ihren Verbündeten gewarnt hat. «Die bisherigen israelischen Militäroperationen in diesem Gebiet waren gezielter und begrenzter und umfassten keine grösseren Militäroperationen im Zentrum dicht besiedelter städtischer Gebiete», sagte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Mittwoch in Washington.
In dem zuvor in Israel veröffentlichten Video, einem Zusammenschnitt von Bodycam-Aufnahmen der Terroristen, sind verletzte, teilweise blutüberströmte junge Frauen mit ihren schwer bewaffneten Entführern zu sehen. Die Frauen waren im Grenzgebiet zum Gazastreifen als Späherinnen der Armee im Einsatz gewesen. Sie sind offensichtlich verängstigt und haben die Arme hinten den Rücken gebunden. Terroristen schreien sie immer wieder an und bedrohen sie. Die Eltern der Frauen hatten der Veröffentlichung des Videos in der Hoffnung zugestimmt, dass die schlimmen Bilder zur Freilassung ihrer Töchter und anderer Geiseln infolge eines Deals zwischen Israel und der Hamas beitragen könnten.
Israels innenpolitisch unter Druck stehender Regierungschef Netanjahu äusserte sich nach der Veröffentlichung des Videos: «Wir werden weiterhin alles tun, um sie nach Hause zu bringen», versprach er laut der israelischen Nachrichtenseite «Ynet». «Die Grausamkeit der Hamas-Terroristen bestärkt mich nur darin, mit aller Kraft für die Eliminierung der Hamas zu kämpfen, damit sich das, was wir heute Abend gesehen haben, niemals wiederholen kann.»
Bei dem beispiellosen Terrorüberfall der Hamas im israelischen Grenzgebiet am 7. Oktober waren rund 1200 Menschen getötet und mehr als 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden. Der Anschlag löste Israels militärische Offensive in dem abgeriegelten Küstengebiet aus, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher mehr als 35'700 Menschen getötet wurden. Bei der unabhängig kaum zu überprüfenden Zählung wird nicht unterschieden zwischen Kämpfern und Zivilisten.
Nach der angekündigten Anerkennung Palästinas als Staat durch mehrere europäische Länder spricht sich EU-Chefdiplomat Josep Borrell weiter für eine Zweistaatenlösung in Nahost aus. «Ich nehme die heutige Ankündigung von zwei EU-Mitgliedstaaten – Irland und Spanien – sowie von Norwegen zur Anerkennung des Staates Palästina zur Kenntnis», schrieb der EU-Aussenbeauftragte am Mittwochabend auf der Plattform X. «Im Rahmen der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik werde ich unermüdlich mit allen Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um eine gemeinsame EU-Position auf der Grundlage einer Zweistaatenlösung zu fördern.» Auch Deutschland betont das Ziel einer Zweistaatenlösung. Israels Regierungschef Netanjahu lehnt das jedoch ebenso ab wie die Hamas, die Israel das Existenzrecht abspricht.
Die USA als Israels wichtigster Verbündeter sehen die angekündigte Anerkennung Palästinas durch mehrere europäische Länder kritisch. «Wir glauben, dass eine Zweistaatenlösung, die sowohl den Israelis als auch den Palästinensern gerecht wird, nur über direkte Verhandlungen zwischen den Parteien erzielt werden kann», sagte Sullivan am Mittwoch. Daran arbeite die Biden-Regierung seit Langem. Es erschliesse sich ihm nicht, wie die einseitige Anerkennung Palästinas zu einem tatsächlichen Fortschritt hin zu einem Friedensprozess oder Waffenstillstand beitrage.
Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant treibt unterdessen die Wiederbesiedlung von vier Ortschaften im nördlichen Westjordanland voran, die 2005 geräumt worden waren. Als «historischen Schritt» bezeichnete Galant laut Medienberichten am Mittwoch die Aufhebung von Anordnungen, die Israelis verboten hatten, das Gebiet der ehemaligen Siedlungen Ganim, Kadim und Sanur zu betreten. Der Zutritt zu einer vierten Siedlung war bereits zuvor genehmigt worden.
Israel eroberte während des Sechstagekrieges 1967 unter anderem das Westjordanland und Ost-Jerusalem. Rund 700'000 Israelis leben dort heute in mehr als 200 Siedlungen. Der UN-Sicherheitsrat bezeichnete diese Siedlungen 2016 als völkerrechtswidrig und forderte Israel auf, alle Siedlungsaktivitäten zu stoppen. Die Palästinenser wollen im Westjordanland, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem einen eigenen Staat einrichten. (sda/dpa/con)