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Präsident Erdoğan hetzt gegen den Westen: Es brodelt gewaltig

Es brodelt gewaltig – Erdoğan hetzt gegen den Westen

Recep Tayyip Erdoğan stellt sich im Israel-Krieg hinter die Terrororganisation Hamas. Der türkische Präsident steckt in einem grossen Dilemma – und er hat sich für einen erneuten Konflikt mit dem Westen entschieden.
31.10.2023, 09:4031.10.2023, 09:51
Patrick Diekmann / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Die Türkei hat Grund zum Feiern. Am Sonntag wurde die türkische Republik 100 Jahre alt. Überall im ganzen Land waren Tausende Menschen auf den Strassen, schwenkten die rote Nationalflagge und Fahnen mit dem Konterfei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. In Istanbul gab es eine Militärparade mit Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan feierte in Ankara und legte unter anderem einen Blumenkranz am Mausoleum Atatürks nieder.

Turkish President Recep Tayyip Erdogan, speaks to the attendees during a rally to show their solidarity with the Palestinians, in Istanbul, Turkey, Saturday, Oct. 28, 2023. (AP Photo/Emrah Gurel)
Präsident Erdoğan an einer Solidaritätskundgebung für die Palästinenser in Istanbul, Türkei, Samstag, 28. Oktober 2023.Bild: keystone

Für den 69-Jährigen ist es ein enormer politischer Spagat. Atatürk wird in der türkischen Gesellschaft als Staatsvater verehrt, er ist das Fundament des türkischen Nationalpatriotismus. Doch Atatürk stand auch für eine streng laizistische Türkei, in der die Religion aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde. Erst Erdoğan brach mit dieser Staatsräson. Erst seit seiner Regentschaft wurde der muslimische Glaube zu einem dominierenden Faktor in der türkischen Politik und Gesellschaft.

Das zeigt sich auch zunehmend in der türkischen Aussenpolitik. Erdoğan hatte schon in Syrien und Ägypten keine Berührungsängste gegenüber islamistischen Extremisten und stellt sich nach dem Terrorangriff der Hamas gegen Israel nun auf die Seite der Terroristen. Mittlerweile wird der türkische Präsident getrieben von den Kräften, denen er seine Macht verdankt. Das hat für die Türkei fatale Folgen.

Attacke gegen den Westen

Die Bombe platze am Samstag. Erdoğan hatte bei einer Kundgebung seiner konservativ-islamischen Partei AKP in Istanbul Israel «Kriegsverbrechen» vorgeworfen. In der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas hingegen sehe er keine Terrororganisation, sondern eine «Gruppe von Befreiern», die ihr Land verteidige, hatte er vor diesem Auftritt erklärt.

epa10920303 Pro-Palestine protesters shout slogans and hold Palestinian and Turkish flags as they take part in a rally in support of the Palestinian people in Istanbul, Turkey, 15 October 2023. Thousa ...
Pro-palästinensische Demonstration in Istanbul: Seit Wochen gehen in der Türkei Tausende Menschen auf die Strasse, um gegen Israel zu demonstrieren.Bild: keystone

Wer den türkischen Präsidenten schon etwas länger verfolgt, dem ist klar: Diese Wutrede war kein Zufall, jedes Symbol ist bis ins Detail inszeniert. Erdoğan trägt bei seinem Auftritt ein Tuch um den Hals, auf dem die türkische und die palästinensische Fahne zu sehen ist. Auf der Bühne wird er von Tausenden Menschen gefeiert.

Die Botschaft der türkischen Führung: Die Türkei steht zu seinen muslimischen Glaubensbrüdern und -schwestern. Das «Massaker» im Gazastreifen sei laut Erdoğan das Werk des Westens und es sei der westliche Imperialismus, der nicht nur die Region ins Chaos stürze, sondern auch die Türkei kleinhalte und für die türkische Wirtschaftskrise verantwortlich sei. Nur Erdoğan – so das Narrativ – könne Muslime und die Türkei dagegen verteidigen. «Wir werden erfolgreich und siegreich bleiben. Keine imperialistische Macht kann dies verhindern», sagte er in einer weiteren Rede am Sonntagabend in Ankara. Israel sei nur eine «Schachfigur» des Westens.

Aber bereits vor seinen Auftritten am Wochenende hatte der türkische Staatschef Israel angesichts der verstärkten Angriffe im Gazastreifen aufgefordert, «den Wahnsinn» unverzüglich zu stoppen. «Die Bombardierungen in der vergangenen Nacht haben sich erneut gegen Frauen, Kinder und unschuldige Zivilisten gerichtet und die humanitäre Krise verschärft», erklärte Erdoğan am Samstag auf X. Einen geplanten Besuch in Israel sagte er ab. Zudem warf er den westlichen Ländern vor, sie seien «unfähig, Israel zu stoppen».

In den vergangenen Wochen erwähnte der türkische Staatschef nicht mehr, dass die im Gazastreifen herrschende Hamas am 7. Oktober einen Grossangriff auf Israel gestartet, dabei nach israelischen Angaben etwa 1'400 Menschen getötet und 229 Menschen als Geiseln verschleppt hatte.

(150704) -- GAZA, July 4, 2015 -- A member of Ezzedine al-Qassam brigades, the armed wing of Hamas movement, holds weapon as he takes part in a night training in the Gaza Strip on July 3, 2015. ) MIDE ...
Kämpfer der radikalislamischen Al-Qassam-Brigaden in einem Tunnel der Hamas unter dem Gazastreifen (Archivbild).Bild: imago stock&people

Erdoğan befeuert alte Feindbilder

Nun gibt sich Erdoğan als starker Protektor der muslimischen Sache. Der Westen, mit dem die Türkei in der Nato eng zusammenarbeitet, ist jetzt wieder der Feind. «Will der Westen wieder einen Kampf zwischen Halbmond und Kreuz?», fragte er in seiner Rede am Samstag.

«Wenn Sie eine solche Anstrengung unternehmen, seien Sie sich darüber im Klaren, dass diese Nation nicht tot ist.»

Dabei geht es dem türkischen Staatschef nicht nur um die Türkei, sondern er sieht sein Land als Erben des Osmanischen Reiches. «Manche Leute mögen Gaza als einen fernen Ort betrachten, der mit uns nichts zu tun hat», sagte er am Samstag. «Aber vor hundert Jahren war für diese Nation Gaza nicht anders als Adana.» Damit spielte der Präsident darauf an, dass auch Gaza zum Osmanischen Reich gehörte.

Für Erdoğan kommt dieser Konflikt dennoch zur Unzeit. Nachdem sich die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen und auch mit Israel in den vergangenen Monaten entspannt haben, nährt er nun wieder das Feindbild des westlichen Imperialismus.

Doch eigentlich war das nicht geplant. Zur Stärkung der türkischen Wirtschaft verbesserte Erdoğan die Beziehungen zu Griechenland, wollte einen Energiedeal mit Israel und hoffte auf Kampfflugzeuge aus den USA. Der Angriff der Hamas auf Israel machte all das zunichte.

Die aktuelle Eskalation zeigt die gegenwärtige Schwäche Erdoğans. Als erste Reaktion auf den Terrorangriff bot er sich als Vermittler an, vermeintlich in der Hoffnung, sich der Sogkraft des Konfliktes doch noch entziehen zu können. Ohne Erfolg.

Verheerende Folgen für die Türkei

Es war seine Kernwählerschaft, die seit Beginn des Krieges in Israel für die palästinensische Sache auf die Strasse ging. «Mörder Deutschland, Mörder Israel, Mörder Europa», skandierten Demonstranten am Wochenende vor dem deutschen Generalkonsulat in Istanbul. Bei vielen Wahlen war es der angebliche muslimische Freiheitskampf, an dessen Speerspitze er sich stellte, was ihm mehrfach seine Macht sicherte. Erdoğan beschwor stets einen religiösen Konflikt – und von diesen Geistern wird er nun eingeholt.

epa10949117 Palestinians walk among the rubble of destroyed residential buildings following Israeli air strikes on Tel al-Hawa neighborhood, in Gaza City, 30 October 2023. The IDF struck over 600 mili ...
Israel greift am Boden und aus der Luft Hamas-Stellungen im Gazastreifen an.Bild: keystone

Nach der vergangenen Parlamentswahl im Frühjahr 2023 ist er auf Koalitionspartner angewiesen, die deutlich fundamentalistischer und nationalistischer sind als seine AKP. Sie erhöhten den Druck auf den Präsidenten und ein halbes Jahr vor den wichtigen Kommunalwahlen in der Türkei wackelt das Machtfundament von Erdoğan bedrohlich. Selbst sein Sohn und sein Schwiegersohn gingen zu pro-palästinensischen Protesten in Istanbul. Der Präsident reagierte wie so oft in der Vergangenheit und legt sich mit dem Westen an, um von eigenen politischen Unsicherheiten abzulenken.

Erdoğan konnte den innenpolitischen Druck nicht mehr ignorieren und entschied offenbar, sich an die Spitze der Bewegung stellen zu wollen. Damit konnte der Präsident gleichzeitig den inneren Frieden in der Türkei wahren, denn in der türkischen Gesellschaft gibt es in Teilen eine tief verwurzelte Israel-Feindlichkeit. Ausserdem kann er sich damit als muslimische Führungsmacht inszenieren. Trotzdem ist das gegenwärtige Auftreten des türkischen Präsidenten für sein Land aussenpolitisch verheerend.

Der israelische Aussenminister Eli Cohen sprach von «schwerwiegenden Aussagen». Auf der Plattform X teilte er mit, er habe die diplomatischen Vertreter aus der Türkei zurückbeordert, «um eine Neubewertung der Beziehungen zwischen Israel und der Türkei vorzunehmen». Israel und die Türkei stehen also vor einer neuen diplomatischen Eiszeit und auch im Westen wird nun der Druck auf die politischen Führungen steigen, dass es für Erdoğan politische Konsequenzen gibt.

Schon jetzt scheint klar: Der Konflikt wird der türkischen Wirtschaft schaden und die politischen Annäherungen der vergangenen Monate liegen komplett in Trümmern. Es profitieren Kräfte wie die iranische Führung oder die Hamas, die aus der Spaltung zwischen muslimischer und westlicher Welt ihre Existenzberechtigung ziehen. Erdoğan gehört nicht zu den Gewinnern, denn er wird zum Opfer seiner eigenen Politik der vergangenen 20 Jahre.

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Erdogan feiert mit seinen Anhängern den Wahlsieg
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Erdogan feiert mit seinen Anhängern den Wahlsieg
Die Auszählung der Stimmen in der Türkei ist noch nicht beendet, da erklärt Präsident Erdogan sich schon zum Sieger. Er spricht von einem «Fest der Demokratie».
quelle: ap/pool presidential press service
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Debatte in türkischem Parlament eskaliert zu ausgewachsener Schlägerei
Video: watson
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226 Kommentare
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El_Chorche
31.10.2023 09:49registriert März 2021
"sondern eine «Gruppe von Befreiern», die ihr Land verteidige"

Was wohl die Kurden dazu sagen?
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sweeneytodd
31.10.2023 09:47registriert September 2018
Es ist schon witzig, wie Erdogan immer wieder gegen den Westen hetzt, obwohl er komplett abhängig von ihm ist.
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Bikemate
31.10.2023 11:10registriert Mai 2021
Erdogan hat Religion und Staat wieder zusammengeführt. Wenn man den Zustand der Türkei betrachtet war das zusammen mit all seinen anderen Aktionen wohl keine gute Idee. Irritierend finde ich, dass so viele Auslandtürken auf ihn hereinfallen und ihn trotzdem wählen.
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