Nach vier Tagen rauer Fahrt und einem Umweg von 1500 Kilometern verlassen vor wenigen Tagen in Carrara 95 aus dem Mittelmeer gerettete Menschen die «Ocean Viking». Das Schiff der deutschen Hilfsorganisation SOS Méditerranée hat am 25. Januar die vor der Küste Libyens in Seenot geratenen Migranten an Bord genommen.
Die italienischen Behörden wiesen die Seeretter an, ihre Passagiere im fernen Carrara in der Nordtoskana abzusetzen. Statt des einen Tages auf hoher See – solange dauert etwa die Überfahrt von Libyen nach Sizilien – stand der Crew und ihren Passagieren eine mehrtägige Fahrt quer durchs Mittelmeer bevor.
Und Carrara ist kein Einzelfall. Anfang Jahr hat die neue italienische Regierung von Giorgia Meloni die Schraube in der Migrationspolitik deutlich angezogen. Schiffe werden auf weite Umwege bis in die Nord-adria oder eben an die Küste der Toskana geschickt.
Ravenna, La Spezia, Livorno: Italien schickt die zivilen Seeretter auf lange Umwege (rot die internationalen Küstengewässer vor Libyen, in denen die Schiffe der Hilfsorganisationen operieren):
Nun hat der Europarat in Strassburg auf Italiens Politik der fernen Häfen reagiert. Der Europarat agiert als oberster Hüter der Menschenrechte in Europa. Die Liste der Mitglieder geht weit über die der EU-Staaten hinaus.
Die Schweiz ist ebenso dabei wie etwa die Nicht-EU-Länder Norwegen und Grossbritannien. Russland wurde nach dem Angriff auf die Ukraine ausgeschlossen. In einem Brief an den italienischen Innenminister Matteo Piantedosi übt der Europarat nun deutliche Kritik.
Zwei Vorgaben Italiens geisselt der Brief besonders: die Zuweisung weit entfernter Häfen für die zivilen Seeretter sowie eine Bestimmung, die die Helfer verpflichtet, nach einer Rettungsaktion unverzüglich den zugewiesenen Hafen anzulaufen. Wollen die Hilfsorganisationen Bussen von 50’000 Euro oder gar die Beschlagnahmung ihrer Schiffe vermeiden, so dürfen sie auf ihrer Route keine weiteren Rettungsaktionen unternehmen. Damit brechen sie aber internationales Recht, so der Europarat.
Italien wehrt sich. Die zivilen Seeretter operierten nicht in einem legalen Rahmen, so das Innenministerium in Rom. Die Behauptung stützt es mit dem Argument, die Rettungsmissionen der Helfer würden die einträgliche Schleppertätigkeit der Menschenhändler in Libyen überhaupt erst ermöglichen.
Diese, so die Argumentation, könnten mit wartenden Helfern vor den libyschen Küstengewässern rechnen. Die Helfer würden so – bewusst oder unbewusst – das Geschäftsmodell der Schlepper befeuern. Letztere würden dadurch ermutigt, die Menschen in nicht seetauglichen Booten aufs Meer zu schicken.
Welches Argument sticht nun mehr, dasjenige des Europarats oder dasjenige Italiens? Die angefragte Juristin und Expertin für internationales Migrationsrecht von der Universität Freiburg, Sarah Progin, sieht den Europarat klar im Recht. Die Pflicht zur Seenotrettung ergebe sich aus den einschlägigen internationalen Abkommen sowie dem Völkergewohnheitsrecht, sagt sie.
Die Hilfspflicht gelte fast uneingeschränkt. Nur eine Ausnahme gibt es: Wenn eine Hilfsaktion das rettende Schiff, dessen Crew und dessen Passagiere gefährden würde. Zu den von Italien zugewiesenen Häfen im fernen Norditalien sagt Sarah Progin unmissverständlich: «Die aufgenommenen Personen müssen in den nächsten sicheren Hafen gebracht werden.»
Italiens Verteidigungsschrift hat bei der Rechtsprofessorin also keine Chance. Rechtsverletzungen – gerade im Flüchtlingsschutz sind sie zum Teil eklatant – begehen auch andere Länder. Ein prominentes Beispiel sei Ungarn, das völkerrechtliche Standards grob missachte, wie Sarah Progin sagt. Nur weil auch andere Länder gegen Recht verstiessen, sei Italien indes nicht entschuldigt.
Mit einer allfälligen Busse kann die ultrarechte Regierung von Giorgia Meloni gut leben. Denn ihre harte Hand in der Migrationspolitik garantiert ihr die Unterstützung der Stammwählerschaft. Und darin könnte der primäre Antrieb für Italiens Politik der fernen Häfen liegen – Wind, Wellen und Wetter ausgesetzte Menschen hin oder her.