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Nachlese zum Debakel in Iowa: Warum die USA keine Musterdemokratie sind

Precinct captain Carl Voss, of Des Moines, Iowa, holds his iPhone that shows the Iowa Democratic Party's caucus reporting app Tuesday, Feb. 4, 2020, in Des Moines, Iowa. (AP Photo/Charlie Neiberg ...
Carl Voss, Leiter eines Wahlbezirks in Des Moines, präsentiert die ominöse App.Bild: AP
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Die Billig-App von Iowa: Warum die USA keine Musterdemokratie sind

Das Debakel der Demokraten bei der Vorwahl in Iowa ist für unseren Mitarbeiter vor Ort keine Überraschung. Beim Wahlverfahren habe die Schweiz den USA einiges voraus.
07.02.2020, 19:2811.02.2020, 09:44
johann aeschlimann, kansas city
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Es ist Mittwochvormittag und die Resultate der Iowa-Caucuses liegen immer noch nicht vor. Gestern Abend meldete das Radio, dass die Stimmenzähler nun auf die Papiernotizen aus den Wahllokalen zurückgreifen, aber man hat offensichtlich auch Mühe, so zu Potte zu kommen. Zum Vergleich: Die Schweiz hat rund 2300 Gemeinden und bei Nationalratswahlen ein weit komplizierteres Wahlsystem, aber am Montag nach einer Wahl ist aus- und nachgezählt.

Gut, dass es nächste Woche die Urnenwahl in New Hampshire gibt, dann weiss man eher, wer bei den Demokraten lahmt und wer die Nase vorne hat. Immer vorausgesetzt, dass New Hampshire nicht auch verbaselt – die amerikanischen Wahl- und Zählverfahren sind substandard. Das Stichwort lautet Florida 2000.

Earnest Williams, of Apollo Beach, Fla., counts undervote ballots Saturday afternoon Dec. 9, 2000, at the Hillsborough County Supervisor of Elections office in Tampa, Fla. (AP Photo/Chris O'Meara ...
Das Debakel mit den ausgestanzten Zetteln bei der Wahl 2000 in Florida illustriert die Mängel des US-Wahlsystems.Bild: AP

Bisher bekannt ist, dass die Ermittlung des Wahlergebnisses einer App anvertraut wurde, für welche die Demokratische Partei einer Firma namens Shadow 63'000 Dollar bezahlte. Das ist lächerlich. Wer je mit App-Fritzen zu tun hatte, weiss, dass sie a) stattliche Stundensätze verrechnen und b) von der Substanz nichts verstehen. Für 63'000 Dollar gibt es mit Sicherheit nicht einmal den Hauch einer Idee einer funktionierenden Wahlelektronik.

Ein paar Punkte sind hier festzuhalten:

  • Das Fiasko ist weniger überraschend als man meinen könnte. Sicherheit und Verlässlichkeit im elektronischen Verkehr sind in den USA generell so klein geschrieben, wie das Vertrauen auf technische Lösungen gross ist. Um Zinkereien im byzantinischen Caucus-System vorzubeugen (öffentliches Palaver, zwei Entscheid-Runden, Quorum), hatte die Sanders-Kampagne nach der knappen Vorwahl von 2016 Verbesserungen gefordert, und die Partei verfiel auf die famose Shadow-App – die technische Lösung. Dass diese schluderig herauskam, liegt auch an einer verbreiteten Nonchalance gegenüber Sicherheitsfragen im Internet. Es gibt in den USA keinen gesetzlichen Datenschutz nach europäischem Vorbild, sondern «Privacy», deren Verletzung auf dem Gerichtsweg (Anwälte ...) eingeklagt werden muss und teuer entschädigt werden kann. Der Zugang zu einem amerikanischen Bankkonto oder einer amerikanischen Versicherungspolice ist ungefähr gleich stark gesichert wie der Zugang zu den abonnierten Artikeln des «Tages-Anzeigers».
Freiwillige Mitarbeiter helfen bei der Auszaehlung der Abstimmungsunterlagen zur Staenderat- und Nationalratswahl, aufgenommen am Sonntag, 20. Oktober 2019, in Zuerich. (KEYSTONE/Ennio Leanza)
In der Schweiz werden die Stimmen von Hand gezählt.Bild: KEYSTONE
  • Ich mag keine patriotischen Aufwallungen, aber der schweizerische Umgang mit dem Volkswillen ist ein Vorbild. Sicher haushoch über allem, was sich hier in den USA beobachten lässt. In der Schweiz werden Stimmen von Hand gezählt und bei der elektronischen Auswertung geht es sorgfältig zu. Ja, es gibt Zwischenfälle, manches Resultat fällt bei der Neunerprobe durch, der eine oder andere Gemeindepräsident wird von Software überwältigt. Aber mehrere Tage, um eine Stimmenzahl von der Grössenordnung der Suisse Romande zu zählen? Nie. Es ist eine gute Sache, dass die Schweiz an der Urne abstimmt und die Stimmen von Hand zählt. Und es ist eine noch bessere Sache, wenn beim E-Voting grosse Vorsicht geübt wird. Man ist in einer Versuchsphase, und im Moment sind alle Versuche gestoppt. Gut so. Nicht alles muss elektronifiziert werden, und die Bequemlichkeiten des Internets ersetzen die Anstrengungen der Republik nicht. Dass der Gang zur Urne im Schulhaus durch die ubiquitäre Briefwahl abgelöst wurde, ist schon schlimm genug.
  • Was wäre, wenn Iowa in Afrika läge? Wie viel mediales Geheul wäre die Folge? Wie viel internationale Besorgnis und diplomatisches Stirnrunzeln? Wir wissen es, weil Wahlen im Süden scharf beobachtet werden. Wahlbeobachtung durch die UNO und die OSZE ist ein professionalisierter Geschäftszweig der internationalen Diplomatie geworden. Die aufwendige Installation von Wahlprozessen – Computer, Zählsoftware, hoffentlich, hoffentlich keine Apps – ist einer der grösseren Posten in der UNO-Hilfe für strauchelnde Staaten. Es ist Illusion, zu hoffen, dass die Wahlverfahren in den USA auch nur ein Iota solcher Beschäftigung erführen. Aber in den internationalen Gremien könnte etwas mehr Mut gegenüber demokratischem Messianismus aus Amerika angesagt sein. Diplomaten könnten zum Beispiel den Zwischenruf «How about Iowa?» einüben.
  • Die Schweiz steht bei der korrekten Durchführung von Wahlen nicht allein. Fälle wie Iowa 2020 oder Florida 2000 oder die systematische Ausgrenzung von Vorbestraften oder der politisch willkürliche Zuschnitt von Wahlkreisen, wie sie in den USA üblich sind, gibt es in dieser Art in keinem demokratischen europäischen Staat. Europa tut gut daran, sich in Sachen Demokratie und Republik von den Vereinigten Staaten abzusetzen, auf einer eigenen Vorstellung zu beharren und mit eigener Stimme zu sprechen – egal ob in direkt-demokratischer oder parlamentarischer Ausprägung. Die rote Linie ist nicht zwischen diesen Varianten gezogen. Sie liegt im Nordatlantik, leider.

Johann Aeschlimann war 18 Jahre Korrespondent der «Basler Zeitung» in Washington, D.C., Bonn und Brüssel. Im Wahljahr 2020 wird er regelmässig für watson aus den USA berichten. Diesen Text hat er für seinen persönlichen Blog verfasst. Wir bringen ihn in leicht gekürzter Form.

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Bernie Sanders, Senator aus Vermont, Jahrgang 1941. Sanders ist zwar ein unabhängiger Senator, aber Mitglied der demokratischen Fraktion.
quelle: epa/epa / tannen maury
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51 Kommentare
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El Vals del Obrero
07.02.2020 19:44registriert Mai 2016
Vor allem ist das US-amerikanische oder allgemein angelsächsische politische System mit Majorz-Wahlen (was fast automatisch auf 2-Parteien-System herausläuft) ziemlich vermurkst.

Bei rein parteiinternen Wahlen (nur darum geht es da eigentlich) ist bei uns sicher nicht alles perfekt, aber nur in einem Zwei-Parteien-System sind die so entscheidend.

Proporz kann auch Nachteile haben (siehe Thüringen), aber zumindest ist das Parlament nicht total verzerrt. Ausser natürlich,es gibt wie in der CH eine Kollegialregierung.

Unser System ist auch nicht perfekt, aber ich würde es nicht tauschen wollen
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maylander
07.02.2020 20:51registriert September 2018
Die Vorwahlen sind eine rein Parteiinternen Angelegenheit. Also so wie wenn die SVP (willkürliche Beispiel) ihre Nationalratsliste zusammenstellt.
Dies sollte man nicht mit den echten Wahlen verwechseln. Natürlich wäre es auch bei und ein kleiner Skandal wenn die interne SVP App von Lehrlingen der Ems Chemie programmiert wäre.
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domin272
07.02.2020 20:34registriert Juli 2016
Nun das Problem lautet dort wie auch hier Selbstgefälligkeit! Die USA sind eine der ältesten noch exististenten Demokratien der Welt und dieses Selbstverständnis sieht man eindeutig im Politischen Prozess. Viele können sich gar nicht vorstellen, dass solche Dinge möglich sein sollen und denken auch nicht wirklich, dass sie vielleicht manches mal den richtigen Ausgang verhindern könnten. Möchtegernpatriotismus...
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