Die Netflix-Produktion «Squid Game» dominiert seit Wochen die weltweiten Schlagzeilen. Nun haben sich sogar die kommunistischen Propagandamedien von Nordkorea zu Wort gemeldet: Die Serie würde beweisen, dass Südkoreas Gesellschaft «infiziert» sei von «Korruption, Sittenlosigkeit und dem Überleben des Stärkeren», schreibt Arirang Meari im offensichtlichen Versuch, den Rekorderfolg aus dem verfeindeten Nachbarstaat zu diskreditieren.
Dabei trifft keine Serie den globalen Zeitgeist wie «Squid Game», in der hochverschuldete Menschen in Kinderspielen um ihr Überleben kämpfen. Mit 111 Millionen Zuschauern nach nur 27 Tagen ist es die mit Abstand erfolgreichste Netflix-Produktion seit dem Start des Streamingdienstes. International hat die Serie ein riesiges Publikum begeistert, darunter in der Volksrepublik China, wo sie aufgrund der strengen Internetzensur offiziell gar nicht erhältlich ist.
Zudem meldet der Online-Sprachdienst Duolingo einen weltweiten Koreanisch-Boom: In den Vereinigten Staaten hat man seit dem Serienstart von «Squid Game» im September 40 Prozent mehr Nutzer für Koreanischkurse angemeldet als noch im Vorjahreszeitraum, in Grossbritannien sind es gar 70 Prozent.
Dass die derzeit erfolgreichste Serie ausgerechnet aus Südkorea kommt, ist dabei kein Zufall. Die Regierung in Seoul fördert schliesslich seit Ende der 90er-Jahre gezielt den Kulturexport als wirtschaftliche Wachstumsbranche. Dabei wurzelt der Erfolg von K-Pop und K-Dramas in einer handfesten Niederlage. Während der Finanzkrise Ende der 90er wurde das Land am Han-Fluss von Massenarbeitslosigkeit und stagnierenden Exporten tief getroffen. «Hätte es keine Krise gegeben, wäre es wohl nie zur koreanischen Welle gekommen», schreibt Euny Hong in ihrem viel beachteten Buch «The Birth Of Korean Cool».
Als Lösung stiess der 1998 gewählte Präsident Kim Dae-jung einen Prozess an, den Euny Hong als «wohl grösste nationale Image-Kampagne in der Weltgeschichte» beschreibt. Das immer noch recht abgeschottete Land der Morgenstille solle der globalen Gemeinschaft beitreten – und die Popkultur würde diese Botschaft in die Welt hinaustragen.
Rückblickend war es ein Geniestreich, in den Kulturexport einzusteigen. Denn Südkorea verfügt über kaum nennenswerte natürliche Ressourcen, dafür über eine extrem gebildete, krisenerfahrene und wandlungsfähige Bevölkerung. Doch gleichzeitig hatte man mit einem ernsthaften Image-Problem zu kämpfen. Im Ausland hat man die Leute in Südkorea mit emsigen Samsung-Angestellten verbunden, keinesfalls mit hippen Popikonen.
Erstmals sorgten koreanische Arthouse-Regisseure wie Park Chan-wook («Old Boy»), Bong Joon-ho («The Host») und Kim Ki-duk («Seom – die Insel») beim europäischen Publikum für Respekt. In Asien hingegen kam vor allem der zuckersüsse Pop der «Girls Generation» gut an. Das ist auch Netflix nicht entgangen. Der US-Konzern hat bereits 700 Millionen Dollar in koreanische Serien investiert. Das zahlt sich jetzt aus, auch mit Serien wie «Stranger» oder «Itaewon Class».
Schon länger ist die koreanische Pop-Musik erfolgreich. Den internationalen Triumphzug des K-Pop startete 2012 der Produzent, Sänger und Rapper Psy mit «Gangnam Style». Allein in den USA wurde das Lied über vier Millionen Mal gekauft. Auf Youtube wurde der Song mehr als 4 Milliarden Mal aufgerufen. Den tatsächlichen Durchbruch der koreanischen Welle schafften spätestens BTS: Die Boyband, die derzeit mit Coldplay eine Kollaboration in der Pipeline hat, gilt weltweit als erfolgreichste seiner Art.
Und Bong Joon-ho gewann mit seinem gesellschaftskritischen Meisterwerk Parasite als erster fremdsprachiger Film einen Oscar.
Die neu gewonnene Soft Power hat auch das Stadtbild von Seoul verändert. Das Universitätsviertel Hongik und die Ausgangmeile Itaewon sind längst voll von europäischen Austauschstudentinnen und jungen Kreativen, die es aufgrund der Faszination für koreanische Popmusik, Modedesign und Fernsehserien nach Ostasien gezogen hat. (aargauerzeitung.ch)
PS: Was bitteschön soll Gangnam Style mit K-Pop zu tun haben?