Das Regime von Nicolás Maduro wankt. Parlamentspräsident Juan Guaidó hat sich selbst zum Interimspräsidenten Venezuelas ausgerufen; die USA und weitere Staaten haben ihn bereits anerkannt. Tag für Tag demonstrieren in der Hauptstadt Caracas tausende gegen die verhasste Regierung, nachts schlagen sie auf ihre Töpfe und Pfannen, um ihren Protest hörbar zu machen.
Doch diese Kundgebungen des Missfallens sind gefährlich. Oft tauchen wie aus dem Nichts die Rollkommandos des Regimes auf, 20 bis 30 Mann starke Trupps von Motorradfahrern, die ihre Opfer einkreisen und in die Luft schiessen. Manchmal schiessen sie auch auf die Leute. Diese gefürchteten «Colectivos» sind neben der Armee eine der wichtigsten Stützen des Regimes. Woher kommen sie, wer sind sie? Vier Fragen zu den berüchtigten Motorradgangs.
Eine der Wurzeln der heutigen Colectivos reicht zurück in die Sechzigerjahre. Nach dem Sieg der kubanischen Revolution 1959 entstanden in vielen lateinamerikanischen Ländern zum teil bewaffnete revolutionäre Bewegungen, von denen einige – als urbane Guerilla – in den Städten operierten, auch in Venezuela. Neben den militanten Gruppen entwickelten sich aber auch zivile Gemeinschaften, die – vornehmlich in den ärmeren Stadtteilen – kulturell und politisch aktiv waren.
Diese Gruppierungen unterstützten Hugo Chávez († 2013) und dessen «Bolivarische Revolution». Bei den Präsidentschaftswahlen 1998 mobilisierten sie die Bewohner in den Armenvierteln für Chávez und hatten so einen nicht unwesentlichen Anteil an seinem Wahlsieg. Chávez institutionalisierte sie 2001 in den sogenannten «Bolivarischen Zirkeln», die als revolutionärster Flügel der venezolanischen Gesellschaft galten und als basisdemokratische Organisationen die Unterstützung für die Bolivarische Revolution sichern sollten. In diesen rund 80'000 Zirkeln, die den kubanischen «Komitees zur Verteidigung der Revolution» nachgebildet wurden, waren über zwei Millionen Mitglieder organisiert.
Im April 2002 verlor Chávez bei einem Putsch kurzzeitig die Macht, konnte sich aber am Ende behaupten – nicht zuletzt dank der Unterstützung der Bolivarischen Zirkel, die auch Gewalt angewendet hatten, um den Präsidenten zu verteidigen. Diese Ereignisse dürften Chávez davon überzeugt haben, dass er parallele Sicherheitskräfte benötigte, die als Gegengewicht zur Armee dienen, aber auch schnell als Eingreiftruppe gegen Demonstrationen mobilisiert werden konnten.
Das Resultat waren die Colectivos, die bewaffnet wurden – 2005 kaufte Venezuela in Russland 100'000 Sturmgewehre des Typs AK-47. Offiziell sollte die Bewaffnung ausländische Mächte davon abschrecken, in Venezuela zu intervenieren. Der Ex-General Alberto Muller sagte dazu: «Das Ideal wäre die Schweiz, wo jeder Bürger seine Waffe zu Hause hat.» Kritiker sahen die Milizen jedoch als Mittel, die Opposition im Land einzuschüchtern.
Im folgenden Jahr gelangten die Colectivos institutionell unter das Dach der sogenannten Kommunalen Räte, die durch den Staat finanziert werden. Dies verschaffte ihnen Legitimität – und Zugang zu Geldern aus der Staatskasse. Damit erhielten sie reale Macht in ihren Quartieren.
Wer die «caballeros de acero» («Ritter aus Stahl») genau sind, die auf ihren Motorrädern blitzschnell auftauchen, ist nicht völlig klar. Sie tauchen immer als Gruppe auf und sind maskiert oder tragen Helme, zudem schrauben sie die Nummernschilder ihrer Motorräder ab. Deshalb sind sie nicht leicht zu identifizieren. Sicher ist aber, dass der Übergang dieser Schlägertrupps zur regulären Polizei fliessend ist; viele Mitglieder der Colectivos sind aktive oder ehemalige Polizisten. Manche arbeiten auch als Bodyguards für Regierungsbeamte, wie Alejandro Velasco von der Universität New York sagt.
Laut der Nonprofit-Organisation InSight Crime sind auch einige Angehörige der venezolanischen Nachrichtendienste, darunter der militärische Abwehrdienst und der Bolivarische Nachrichtendienst, Mitglieder von Colectivos. Diese werden nicht direkt zentral geführt, doch informell gilt der Politiker Diosdado Cabello als ihr Anführer. Cabello ist eine der einflussreichsten Figuren an der Spitze der venezolanischen Sozialisten; er ist Präsident der «Verfassungsgebenden Versammlung», die Maduro verfassungswidrig einrichtete, um das Parlament zu entmachten.
Cabello, der den zweifelhaften Ruf geniesst, einer der korruptesten Politiker Venezuelas zu sein, hat eine eigene wöchentliche TV-Show, in der er Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten angreift. Er brüstete sich damit, dass während der Unruhen im April 2017 an einem einzigen Tag 60'000 Mitglieder der Colectivos im Einsatz gewesen seien. Die Schweiz verwehrt ihm wegen Menschenrechtsverletzungen seit 2018 die Einreise und hat seine Vermögenswerte eingefroren.
Bis zum Frühjahr 2017 belief sich die Gesamtzahl der Colectivo-Mitglieder auf rund 100'000. Während der Unruhen im April, die aufgrund der extremen Versorgungskrise ausbrachen und dutzende Todesopfer forderten, kündigte Maduro an, diesen Bestand auf eine halbe Million aufzustocken. Diese Leute sollten zudem alle bewaffnet werden.
Colectivos gibt es in mehreren Städten Venezuelas, das Schwergewicht liegt aber eindeutig in der Hauptstadt. In Caracas soll es zwischen 70 und 100 von ihnen geben; sie haben ihre Basis meist in Slums («Ranchos» oder «Barrios»). Eines der bekannteren – und gewalttätigeren – Colectivos ist «La Piedrita» im Quartier 23 de Enero. Es entstand bereits in den Achtzigerjahren und wurde später zu einem der Bolivarischen Zirkel. Die Politikerin Lina Ron, die den Zirkel zeitweise anführte, behauptete, er sei «bis an die Zähne bewaffnet».
Die ursprüngliche Bestimmung der Colectivos, nämlich in den Quartieren politische und kulturelle Aktivitäten zu organisieren sowie soziale Probleme und die Kriminalität zu bekämpfen, ist inzwischen in den Hintergrund getreten. Im Gegenteil: Sie sind selber oft zu kriminellen Gangs geworden, die heute ganze Stadtviertel beherrschen und in vielen Städten den Drogenhandel, teilweise auch Waffengeschäfte und den Handel mit gestohlenen Autos kontrollieren. Es gibt zudem Colectivos, die klandestine Kasinos betreiben.
Als Folge davon hat Venezuela heute nach El Salvador und Honduras die weltweit dritthöchste Mordrate und Caracas ist mittlerweile die gefährlichste Hauptstadt der Welt. Die Colectivos weisen nun Ähnlichkeiten mit den Tonton Macoute auf, der brutalen Miliz des Duvalier-Clans, die jahrzehntelang Haiti terrorisierte. Manche Beobachter sehen auch Parallelen zwischen den Colectivos und den iranischen Basidsch, die Teil der Revolutionsgarden sind und 2009 in ähnlicher Weise gegen die Oppositionsbewegung vorgingen.
Die Finanzierung der Colectivos durch staatliche Zuschüsse ist in der letzten Zeit – kein Wunder angesichts der leeren Staatskasse – stark zurückgegangen. Dafür erhalten sie beispielsweise Lizenzen für die Verteilung von Lebensmitteln, was derzeit in Venezuela einer Lizenz zum Gelddrucken gleichkommt. Eine Einwohnerin von Caracas schilderte dies den Reportern von InSight Crime mit gesenkter Stimme wie folgt:
All diese halblegalen und illegalen Aktivitäten sind möglich, weil sich die offizielle Staatsgewalt aus vielen Quartieren zurückgezogen hat und den Colectivos das Feld überlassen hat. Diese übernehmen daher auch die Kontrolle über Schulen, Krankenhäuser und Geschäfte. Das Colectivo Piedrita betreibt selbst eine eigene Radiostation.
In hiesigen Medienberichten treten die Colectivos aber in erster Linie in ihrer Funktion als Schlägertrupps des Regimes in Erscheinung, die gnadenlos Jagd auf Oppositionelle machen – auf die «Schmutzigen», wie sie selbst die Gegner der Regierung nennen. Zu den Opfern dieser Überfälle gehören regierungskritische Journalisten, oppositionelle Politiker und – seit sich auch die Einwohner der Armenviertel von der Regierung abwenden und auf die Strasse gehen – immer öfter auch Demonstranten. Von 2014 bis 2017 gingen mindestens 131 Morde auf ihr Konto.
Dank ihren Kontakten zu Polizei und Politik kommen die Schläger und Mörder meistens ohne Strafe weg. Die Polizei erscheint meistens mit Verzögerung – wenn überhaupt – am Tatort, wenn die Motorradfahrer längst wieder weg sind. Die Überfälle der Colectivos sind Teil der Repressionsmassnahmen des Regimes, ermöglichen es diesem aber zugleich, sich von den Gewalttaten zu distanzieren und diese als Folge von Zusammenstössen unter Zivilisten darzustellen.
Noch weiss niemand, ob sich das Regime in Venezuela halten kann, sei es mit oder ohne Nicolás Maduro. Die Loyalität der meisten Colectivos gilt ohnedies nicht der Person des Präsidenten – viele machen ihn selbst für die desolate Lage des Landes verantwortlich und trauern Chávez nach –, sondern der Bolivarischen Revolution.
Die Zukunft der Colectivos hängt davon ab, ob das Regime überlebt. Sollte es nach blutigen Kämpfen fallen, wären sie endgültig diskreditiert und müssten mit schlimmsten Repressalien rechnen. Sollte die Machtübernahme der Opposition hingegen weitgehend friedlich erfolgen, beispielsweise durch einen Kompromiss, wäre eventuell eine Amnestie möglich.
Wenn die Opposition – wie auch immer – die Macht übernimmt, werden die Colectivos aber unweigerlich als Handlanger des Regimes unter Druck geraten, sich entwaffnen zu lassen und aufzulösen. In diesem Fall bleiben ihnen eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder lösen sie sich tatsächlich auf – oder sie gehen den bereits eingeschlagenen Weg weiter und entwickeln sich zu ausschliesslich kriminellen Organisationen.