Der Machtkampf zwischen dem jungen Herausforderer und dem erfahrenen Machthaber hält den südamerikanischen Krisenstaat Venezuela in Atem. Die einen träumen vom Aufbruch, die anderen fürchten den grossen Knall.
«Die Leute erwarten ein neues Kapitel. Dieser junge Mann, der seinen Eid als Übergangspräsident abgelegt hat und mit seinem weissen Hemd, hochgekrempelten Ärmeln und Krawatte an Kennedy oder Obama erinnert, hat mich aufgeweckt», sagt Doris Orozco. «Ich habe grosse Erwartungen.»
Die 72-Jährige sitzt in einer der wenigen geöffneten Bäckereien in Altamira und trinkt einen Kaffee. In der Oppositionshochburg im Osten von Caracas haben viele Geschäftsleute aus Angst vor Plünderungen ihre Läden geschlossen gelassen. In der venezolanischen Hauptstadt herrscht angespannte Ruhe.
Seit der bis vor Kurzem völlig unbekannte Parlamentspräsident Juan Guaidó sich am Mittwoch vor einer jubelnden Menschenmenge zum Übergangsstaatschef erklärt und den sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro offen herausgefordert hat, belauern sich die beiden Kontrahenten. Während der junge Herausforderer auf die Unterstützung der USA und zahlreicher lateinamerikanischer Staaten sowie zumindest das Wohlwollen Europas zählen kann, verlässt sich der autoritäre Machthaber auf das Militär und regierungstreue Milizen.
Bei den Protesten gegen die Regierung kamen in den vergangenen Tagen mindestens 29 Menschen ums Leben. Rund 370 Demonstranten wurden festgenommen. Trotzdem wollen die Regierungsgegner wieder auf die Strasse gehen. «Venezuela ist aufgewacht, um seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen», ruft Gegenpräsident Guaidó seinen Anhängern bei einer Kundgebung auf dem Bolívar-Platz in Chacao zu. «Hier ergibt sich niemand.»
Selbst in Catia, einer Hochburg der regierungstreuen Chavisten im Westen von Caracas, scheppert es jetzt ordentlich. Mit dem Cacerolazo – dem Trommeln auf leeren Töpfen und Pfannen - protestieren die Venezolaner gegen die dramatische Versorgungskrise in dem einst reichen Land. In den Supermärkten bleiben die Regale leer und selbst in den von der Regierung verteilten Lebensmittelpaketen finden sie nur Reis, Linsen und Öl.
Trotzdem halten noch viele Menschen in den Elendsvierteln zu Maduro. Unter seinem verehrten Vorgänger Hugo Chávez erlebten sie einen Aufschwung. Mit den damals noch sprudelnden Öleinnahmen finanzierte die Regierung üppige Sozialprogramme. Sie verschenkte Wohnungen und schickte die jungen Leute zur Universität. Vor allem aber erfuhren die Armen in dem von krassen sozialen Unterschieden geprägten Land erstmals Wertschätzung. Das vergessen die Menschen nicht so schnell.
Doch Maduro hat das Land dermassen heruntergewirtschaftet, dass selbst seiner treuesten Klientel langsam Zweifel kommen. «Die Ärmsten haben den Schuldigen ausgemacht. Sie protestieren jetzt nicht mehr, weil es kein Kochgas gibt, sondern gegen den Verantwortlichen für dieses ganze Desaster», sagt Oscar González. «Das hier ist nicht mehr der glücklichste Ort auf der Erde. Ich weiss nicht, was passieren wird.»
Soledad Rodeton hat von Guaidó und seinen Ambitionen gehört. Doch dessen Hochburg Chacao mit den eleganten Wohntürmen, Einkaufszentren und Parks ist für sie weit weg. «Er ist noch jung und hat andere Meinungen», sagt sie. «Bei mir in der Gegend gibt es viele Chavisten, die in der Miliz sind.»
Nur 20 Prozent der Venezolaner sollen noch hinter Maduro stehen. Der ehemalige Busfahrer hat es aber verstanden, die richtigen Leute an sich zu binden. Die Generäle sitzen an den wichtigen Schaltstellen, kontrollieren das Ölgeschäft, den Import von Lebensmitteln, Banken und Bergbaufirmen. Viele sind wohl in Korruption und Drogenhandel verwickelt. Für ihre Loyalität lässt Maduro sie gewähren.
Auch die «Colectivos» - bewaffnete Motorradgangs im Dienste der Regierung - wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Die Gruppen beherrschen ganze Stadtviertel, kontrollieren die Verteilung subventionierter Lebensmittel und gehen unbehelligt von der Polizei ihren illegalen Geschäften nach. Im Gegenzug erledigen sie die Drecksarbeit und prügeln bei Protesten gegen die Regierung auf die Demonstranten ein. Sollte Maduro seine Kettenhunde jetzt von der Leine lassen, droht ein Blutvergiessen.
Miguel Eduardo Gómez traut sich nicht mehr auf die Strasse. Er tritt hinaus in seinen Garten und stellt ein Bildnis der Jungfrau von Coromoto auf, der Schutzpatronin von Venezuela. «Als der junge Mann die Hand erhoben hat, um den Amtseid zu schwären, haben wir alle die Hand erhoben. Deshalb wird es in diesem Land keinen Krieg geben», sagt er. «Nie wieder Krieg.» (sda/dpa)