Eine Siegerin, ein Sieger. Zwei verschiedene Orte, zwei verschiedene Tage. Doch das Setting ist dasselbe. Eine Frau – in diesem Fall eine Fussballerin – hat soeben mit ihrem Team die Fussball-Weltmeisterschaft gewonnen. Monate später steht ein Mann im Rampenlicht, der soeben seinen Super-Bowl-Triumph feiert. Beide werden geküsst. Beide Küsse werden in Bildern festgehalten und millionenfach geteilt.
Doch die beiden Küsse könnten unterschiedlicher nicht sein. Während der Fussballfunktionär Luis Rubiales der spanischen Fussballerin Jennifer Hermoso seine Lippen aufzwingt, küsst Taylor Swift ihren Freund und Football-Spieler Travis Kelce beglückt im Blitzlicht der Fotografinnen und Fotografen. Das Einzige, was die beiden Küsse eint, ist die Aufmerksamkeit. Und: Beide senden eine Botschaft an die Aussenstehenden. Im einen Fall geht es um Macht, im anderen um Liebe.
Denken wir ans Küssen, verbinden wir dieses primär mit Begehren und Liebe. An das Teilen jener intimen Momente, von denen nur Gefühle und keine Bilder bleiben. Denn beim Küssen sind die Augen geschlossen. Werden sie geöffnet, verfliegt der Zauber. Anders als der Sex kennen Küsse keinen Höhepunkt. Und trotzdem lassen sie einen in rauschhafte Zustände versinken. Doch warum küssen wir überhaupt? Für die Fortpflanzung ist es nicht notwendig. Und das Küssen als blosses Vorspiel abzutun, wird den Lippenbekenntnissen auch nicht gerecht. Das verdeutlicht etwa der Abschiedskuss.
Küssen sei ein Akt der Kommunikation, schreibt der Medienwissenschafter Hektor Haarkötter. Nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit wie im Fall von Rubiales oder Swift. Sondern vielmehr zwischen den beiden Beteiligten. «Küsse können manchmal sogar Worte ersetzen oder als Entgegnung auf Gesprochenes herhalten, also in den direkten Diskurs mit der verbalen Sprache treten, sie aufgreifen, sie sogar ersetzen», schreibt er.
Der deutsche Kommunikationswissenschafter hat das Buch «Küssen. Eine berührende Kommunikationsart» vorgelegt, in dem er die Geschichte des Küssens nachzeichnet. Schnell wird klar: Beim Küssen geht es längst nicht nur um romantische Gefühle. Die nonverbale Kulturtechnik diente auch dazu, gesellschaftliche oder politische Positionen zu verdeutlichen und Hierarchien zu untermauern.
Küssen ist nichts Biologisches. Das hat bereits Charles Darwin, Begründer der Evolutionstheorie und Naturforscher, in den 1870er-Jahren festgestellt. Bei seinen Reisen fiel ihm auf, dass in vielen anderen Kulturen die Lippen der Menschen sich nicht berührten. «Wir Europäer sind an das Küssen als ein Zeichen der Zuneigung so gewöhnt, dass man es für der Menschheit angeboren halten könnte», notierte Darwin.
Seine Beobachtung bestätigten fast 150 Jahre später Anthropologen der Universität von Nevada. Ein Vergleich von 168 verschiedener Ethnien und Kulturen zeigte, dass bei lediglich 46 Prozent geküsst wird. Also nicht einmal ganz die Hälfte.
Die Küssenden leben im indoeuropäischen Sprach- und Kulturraum. Dieser umfasst das Gebiet des heutigen Indiens über Persien und Anatolien bis nach Westeuropa. Dazu kommen jene Regionen wie beispielsweise Nordamerika, deren Mehrheitskultur von europäischen Einwanderern geprägt worden ist.
Anfänglich war das Küssen nichts Romantisches, sondern diente als Begrüssungszeremoniell. Bereits im alten Persien offenbarten sich bei dieser berührenden Geste die gesellschaftlichen Positionen der Küssenden. Waren sie gleichrangig, küssten sie sich auf den Mund. Gehörte eine der beiden Personen einer sozial tieferen Stufe an, gab es einen Wangenkuss.
Auch bei den antiken Griechen galt der Kuss noch als Begrüssungszeremoniell – jedoch nur zwischen engen männlichen Verwandten oder Freunden. Diese kannten auch den erotischen Kuss. Die überlieferten Kunstgegenstände wie etwa Vasenmalerei zeigen Männer, deren Lippen verschmelzen. In der Regel solche eines bärtigen alten Mannes und eines Jünglings. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau kannte hingegen keine Romantik und regelte primär den Fortbestand der Familie.
Anders im antiken Rom. Dort wurde derart ausschweifend rumgeknutscht, dass es gewissen Zeitgenossen gar zu viel wurde. Der Dichter Martial beschrieb es folgendermassen: «Unmöglich ist es, (...), den Küssern zu entkommen. Sie drängen, halten auf, verfolgen, kommen entgegen: von vorne und von hinten, allenthalben und überall.» Die Lippenbekenntnisse waren derart inflationär, dass sie in der ersten Rechtsprechung des Küssens mündeten.
Obwohl Dichter wie Ovid leidenschaftliche und erotische Küsse in ihren Werken beschrieben, blieben Küsse im antiken Rom hierarchisch. Es sei «nach unten geküsst worden», hält Haarkötter fest. Höhergestellte küssten Rangniedrigere. Die Römer schmiegten nicht nur untereinander die Lippen aneinander, sondern auch auf Gegenstände. Erstmals tauchte bei ihnen das Küssen von Objekten auf. Dies als Zeichen der Ehrerbietung - etwa wenn Götterbilder oder Statuen von Kaisern zu küssen waren.
In jener Zeit formierte sich die Urkirche. Der Apostel Paulus selbst war es, der seine Anhängerschaft aufforderte, sich gegenseitig mit einem Kuss zu begrüssen. Christinnen und Christen küssten sich fortan über ihre sozialen Grenzen hinweg auf den Mund.
Kommunikationswissenschafter Haarkötter vermutet darin einen Grund für den raschen Aufschwung der christlichen Glaubensgemeinschaft. Besonders auf niedrige Stände habe diese Gleichheit und dieser Freigeist anziehend gewirkt. Allerdings stoppte bereits im dritten Jahrhundert die Kirchenordnung das geschlechtsübergreifende kirchliche Geknutsche. Das Küssen war nur noch innerhalb desselben Geschlechts gestattet, bis es Papst Innozenz III. gänzlich verbot.
In der säkularen Welt erlebte das Küssen Blütezeiten, wie etwa in der Rennaissance oder in der Romantik. Dazwischen gab es Kussflauten. Besonders schlecht kam das Küssen während der Aufklärung weg. Führende Köpfe wie Voltaire ordneten das Küssen kirchlichen und höfischen Zeremonien zu. Da sie eine egalitäre Gesellschaft anstrebten, lehnten sie es als autoritäres Element ab. Zudem nahm das infektiologische Wissen zu, wodurch Schutzmassnahmen gegen eine Ansteckung von Viren bekannt wurden. Fortan gab es auch medizinische Gründe, um das Küssen in den privaten Bereich zu verbannen.
Die Beispiele zeigen: Küssen unterliegt Regeln und Gepflogenheiten. Oder wie es Haarkötter definiert: «Küssen ist eine kulturelle Praxis, die in ein gesellschaftliches Ordnungssystem eingepasst ist.» Immer wieder wurde verhandelt, wer wen wann und wo küssen darf. Auch in der Schweiz.
Vor genau vierzig Jahren hat das Schweizer Fernsehen den ersten Kuss zweier Männer in der Serie «Motel» ausgestrahlt. Dass sich die Lippen der Schauspieler Peter Freiburghaus (später bekannt mit dem Duo Fischbach) und Daniel Lévy trafen, führte zu einer Flut von Beschwerdebriefen und Anrufen. Der Skandal war derart gross, dass Leutschenbach die Szene in der Wiederholung gekürzt zeigte. Dadurch wirkte der Kuss allerdings nicht mehr einvernehmlich wie im Original, sondern übergriffig. Das wiederum empörte die Schwulenverbände.
Der Umgang mit Küssen ist ein Spiegel der Gesellschaft und von deren Moralvorstellungen. Als 35 Jahre später TV-Moderator Sven Epiney seinem Partner vor laufender Kamera einen Heiratsantrag machte, applaudierte das Publikum beim anschliessenden Kuss freudig.
Dass sich zwei Männer in der Öffentlichkeit küssen, hat eine lange Tradition. Allerdings sind diese Küsse – anders als bei Epiney und seinem Partner – nicht Ausdruck von romantischen Gefühlen. Das zeigt sich bereits im Namen: Bruderkuss. Dieser geht bis ins Mittelalter zurück, als Lehnsherren ihren Vasallen mit einem Kuss in ihre «familia» aufnahmen. Dieser Kuss symbolisierte Verwandtschaft im Geiste, schreibt Haarkötter. Die zur Schau gestellte Brüderlichkeit findet sich ebenfalls bei den Rittern der Tafelrunde in den mittelhochdeutschen Artusromanen.
In Westeuropa ist der rituelle Bruderkuss längst von der Bildfläche verschwunden. Lange hielt er sich hingegen in Osteuropa. Bis ins 19. Jahrhundert küssten sich russische Militärangehörige auf die Lippen. Und auch Mitglieder von Handwerkszünften begrüssten sich mit dieser Geste. Die Arbeiterbewegung prägte später den sozialistischen Bruderkuss. Er diente ihr anfänglich als Erkennungsmerkmal: Wer küsste, war Teil der politischen Bewegung. Daraus entwickelte sich eine standardisierte Begrüssung unter den Genossinnen und Genossen der Anfangszeit der Kommunistischen Internationalen.
Auf deren Spirit berief sich später Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow. Er griff den sozialistischen Bruderkuss in Abgrenzung zu Stalins Terror wieder auf. Wurden westliche Politiker mit einem Händedruck begrüsst, gab es für Vertreter aus Ostblockstaaten einen Kuss. Das gefiel nicht allen. Fidel Castro soll sich beim Verlassen seines Flugzeugs eine brennende Zigarre zwischen seine Lippen geklemmt haben, um diesen Teil des Zeremoniells zu umgehen.
Als berühmtester Bruderkuss gilt jener zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker. Die mächtigsten Männer der Sowjetunion und der DDR küssten sich anlässlich des 30. Geburtstags der DDR. Diese Momentaufnahme ist als Graffito in der East Side Gallery in Berlin zu sehen – und gilt als deren meistfotografiertes Kunstwerk.
Viel häufiger als solch politisch motivierten Küssen widmen sich Künstlerinnen und Künstler den romantischen Küssen. Sängerinnen oder Dichter huldigen der prickelnden und aufgeladenen Stimmung eines Kusses, dem damit verbundenen Begehren und der Süsse des Moments. Maler versuchen ebenso wie Fotografinnen seine Flüchtigkeit zu bannen, währenddessen der Film das Küssen geradezu zelebriert. Das hat Spuren hinterlassen.
Ein Grund, weshalb sich Paare nach dem Zweiten Weltkrieg immer häufiger in der Öffentlichkeit küssten, sieht Hektor Haarkötter in Hollywood. Indem das Publikum – anfänglich noch mit grosser Aufregung – den Lippenbewegungen der Paare auf der Leinwand folgte, gewöhnte es sich an eine vermeintliche Öffentlichkeit des Küssens. Und dies selbst in jenen Weltregionen, welche die kulturelle Praxis des Küssens zuvor nicht kannten.
Für die Gegenwart attestiert Haarkötter dem Küssen allerdings ein düsteres Dasein. Dieses sei seit längerem im Untergang begriffen. Seinen Abgesang stützt er allerdings auf wacklige Thesen, die äusserst kurz gehalten sind. Er nennt dafür unter anderem die Selbstinszenierung, Missbrauchsängste oder die zeiteinnehmende Nutzung des Smartphones. Diese unausgegorenen Passagen stehen in einem starken Gegensatz zu seinen fundierten und erhellenden historischen Exkursen. Küsse faszinieren auch im digitalen Zeitalter – sonst würde ein Bild der schmusenden Taylor Swift nicht millionenfach geteilt. (aargauerzeitung.ch)