Der Streit um die schleppende Aufarbeitung zur Explosion von Beirut ist in der libanesischen Hauptstadt auf tödliche Weise eskaliert. Bei Protesten kam es dort am Donnerstag zu Schüssen und schweren Feuergefechten auf offener Strasse. Nach etwa vier Stunden schien sich die Lage etwas zu beruhigen.
Mindestens sechs Menschen wurden Innenminister Bassam Maulawi zufolge getötet, 30 weitere laut Rotem Kreuz verletzt.
Die Gewalt begann laut einem Augenzeugen, als Unbekannte aus einem Gebäude in Nähe des Justizpalastes Schüsse abgaben. Dort war ein Protest gegen Ermittlungsrichter Tarek Bitar geplant, der die Untersuchung zur gewaltigen Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 leitet. Damals waren mehr als 190 Menschen getötet und rund 6000 verletzt worden.
Amal und Hisbollah forderten bereits vor einigen Wochen, dass Ermittlungsrichter Bitar der Fall entzogen wird – wegen mangelnder Neutralität. Einen entsprechenden Antrag zweier Ex-Minister mit Verbindungen zu Hisbollah und Amal wies ein Kassationsgericht am Donnerstag zurück.
Bitars Vorgänger war der Fall vor einem halben Jahr nach Beschwerden von beschuldigten Ex-Ministern entzogen worden. Bitar kann seine Arbeit zumindest nach dem neuen Gerichtsbeschluss vom Donnerstag vorerst fortsetzen.
Bitar hatte gegen einen der Ex-Minister einen Haftbefehl erlassen, nachdem dieser zu einer Befragung nicht erschienen war.
Die Stimmung war am Vormittag sehr angespannt. Auf Videos waren blutende Menschen zu sehen und Scharen, die bei Schüssen über eine Kreuzung rennen und Schutz suchen. Sicherheitskräfte waren in grosser Zahl im Einsatz und sperrten mehrere Strassen ab. Anwohner wurden aufgefordert, die Gegend zu meiden.
A civil war in Beirut. Hezbollah & Amal supporters gathered in the Lebanese capital to protest against the judge investigating last year's port explosion, as they shooting - 5 Lebanese were killed. pic.twitter.com/dKVZYNKQR1
— Michael Barak PhD, מיכאל ברק, ميخائيل باراك (@Michael_Barak) October 14, 2021
Verängstigte Anwohner flüchteten während der Gefechte teils mit Kindern im Arm, andere holten ihre Kinder in Panik aus der Schule. Einige Kinder wurden zu ihrem Schutz in Klassenzimmern gehalten. Soldaten brachten ältere Menschen in Sicherheit. UN-Sonderkoordinatorin Joanna Wronecka rief auf Twitter zu «höchster Zurückhaltung» auf und einer Wiederherstellung der Ruhe. Die Vereinten Nationen in New York betonten die Notwendigkeit einer unabhängigen Untersuchung der Explosion im vergangenen Jahr.
WATCH: Beirut residents are seen fleeing their homes as gunfire exchange rocked the city.
— Middle East Eye (@MiddleEastEye) October 14, 2021
At least 5 people have been killed in the violence which came after a protest demanding the removal of the judge investigating last year's port blast pic.twitter.com/SDclh7rf1S
Wer für die Gewalt verantwortlich war, blieb zunächst unklar.
Die schiitische Amal-Bewegung und die mit ihr verbundene, Iran-treue Hisbollah sprach von Scharfschützen auf Dächern, die das Feuer auf ihre Anhänger bei dem Protest eröffnet hätten. Sie beschuldigten die christlichen Forces Libanaises (FL), bewaffnete Milizen auf die schiitischen Demonstranten losgeschickt zu haben. Die militaristische FL-Partei ist Nachfolger einer gleichnamigen Miliz, der vor Jahrzehnten mehrere politische Morde zur Last gelegt wurden.
Andere Kräfte werfen der Hisbollah dabei vor, die Ermittlungen zur Explosion behindern zu wollen. FL-Chef Samir Geagea forderte die Regierung auf, sich durch die Hisbollah bei den Ermittlungen zur Explosion nicht einschüchtern zu lassen.
Hisbollah und Amal erklärten, Scharfschützen hätten von Dächern aus das Feuer eröffnet, um das Land «absichtlich in Kämpfe» zu ziehen.
Ministerpräsident Nadschib Mikati rief die Libanesen zur Ruhe auf und dazu, sich «aus keinem Grund in einen Bürgerkrieg ziehen zu lassen».
An solch einen fühlten sich einige angesichts der Strassengefechte trotzdem erinnert: Von 1975 bis 1990, führten unter anderem christliche und muslimische Milizen im Libanon gegeneinander einen Bürgerkrieg. Die Gewalt am Donnerstag spielte sich auch in Nähe einer früheren Demarkationslinie zwischen schiitischen und christlichen Vierteln ab.
Am Nachmittag stellte die Armee schrittweise wieder Ruhe her. Auf den Strassen waren Panzer und Soldaten in Stellung. An mehreren Gebäude waren Einschusslöcher zu sehen. Die Armee hatte kurz nach Ausbruch der Gewalt gewarnt, auf jegliche Schützen das Feuer zu eröffnen.
(yam/rst/sda/dpa)