Der Deal fand bereits Anfang Jahr statt: Im Januar wurde bekannt, dass die Vice Media Group ihr Geschäft in Saudi-Arabien ausbaut und einen Vertrag über die Produktion von Inhalten für die MBC Group unterschrieb. Die MBC Group ist der grösste Medienkonzern im Nahen Osten. Und: Sie wird zu 60 Prozent durch den saudischen Staat kontrolliert.
Die Partnerschaft erregte damals kaum Aufmerksamkeit, doch das ändert sich gerade. Wie die britische Zeitung «The Guardian» berichtet, machen sich jetzt die riesigen Summen des saudischen Geldes, das in die Vice Media Group fliesst, bemerkbar. Demnach habe Vice wiederholt News-Artikel nicht veröffentlicht, in denen die saudische Regierung beleidigt werden könnte, und Reporterinnen und Reporter seien sich unsicher, ob sie noch frei über die Menschenrechtsverletzungen im Königreich berichten könnten.
Dabei widerspricht das so ziemlich allem, wofür das Magazin Vice lange stand.
Vice wurde 1994 ursprünglich als eine Art Punk-Magazin für Subkulturen in Kanada gegründet. Doch die Firma wuchs schnell; es folgten Ableger in am Ende über 20 Ländern, Zusammenarbeiten mit grossen TV-Stationen und der Umzug des Hauptquartiers nach New York. Der Fokus von Vice: «Kultur, Verbrechen, Kunst, Partys, Mode, Protest, das Internet und andere Themen», das Zielpublikum: jung und interessiert.
Ab Mitte der Nullerjahre und mit dem Aufkommen von Videoportalen wie YouTube wurde Vice einer grösseren Öffentlichkeit bekannt für seine Videoreportagen. Rund 100 Reporterinnen und Reporter berichteten für die Newsplattform aus aller Welt, mit Online-Texten, aber eben auch mit Reportagen in Videoform.
Die Devise dabei lautete: (Fast) nichts ist krass genug. So finden sich unter den Beiträgen Reportagen über einen japanischen Kannibalen; über Warlords in Liberia, die das Blut von Kindern trinken; über von Interpol gesuchte Juwelendiebe; Homosexuelle in Russland; die rechtsextremen Aufstände in Charlottesville, USA, oder über den «Islamischen Staat». Fast am liebsten jedoch berichtete Vice über Drogen und Konsumierende aus aller Welt – was dem Portal zeitweise auch viel Kritik einbrachte.
In August 2017, @elspethreeve and our team went to Charlottesville.
— VICE News (@VICENews) August 12, 2019
This is what they witnessed.
Watch the full episode right here, right now https://t.co/JlalvdyIDU pic.twitter.com/XSzgQ21gn2
In jedem Fall aber war Vice hautnah dabei und stiess mit seinen unbeschönigten und schonungslosen Beiträgen mehrmals an die Grenzen des Zumutbaren. Trotzdem – oder auch gerade deshalb – sagte man von Medienportalen wie Vice, sie könnten die Zukunft des Medienkonsums darstellen.
Doch ab 2022 gab es Gerüchte, wonach sich das Medienportal nur noch eher schlecht als recht finanzieren kann. Gemäss Medienkennern lag dem eine Mischung aus Verkalkulieren (zu viele Angebote, zu hohe Präsenz in zu vielen Bereichen), zu vielen Krediten und Schulden, fragwürdigen Zusammenarbeiten aus Geldnöten sowie einer Online-Werbekrise in den USA zugrunde. Am 15. Mai 2023 meldete das Medienunternehmen Vice Media schliesslich Insolvenz an.
Damals berichtete Vice selbst, das Unternehmen werde bei einem Kaufverfahren wohl von der Fortress Investment Group und dem Soros Fund Management, bei dem Vice Media bereits hohe Kredite aufgenommen hatte, gekauft. Zurzeit befindet sich Vice Media noch immer im Insolvenzverfahren und es bleibt unklar, von wem und zu welcher Summe das Unternehmen gekauft wird. Fakt ist: Wird Vice verkauft, geht es für einen tiefen Preis über die Ladentheke. Geschätzt wird zwischen 200 und 300 Millionen Dollar – extrem wenig für ein Unternehmen, das vorher auf 6 Milliarden Dollar geschätzt wurde.
Während Vice Media hunderte Angestellte entlassen musste, läuft ein Teil des Daily Business aber weiter. Und das offenbar in ziemlich veränderter Form. Denn schon vorher generierte man zusätzliche Einnahmen durch Zusammenarbeiten mit anderen Mediengruppen (sogenannten Joint Ventures), zuletzt eben mit den saudischen Staatsmedien, der MBC-Gruppe.
Zwar ist die Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien nicht ganz so neu: Vice ist seit 2017 im Nahen Osten präsent, als es ein regionales Büro in Dubai eröffnete. Ende 2018 distanzierte sich das Unternehmen nach der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi noch öffentlich von Saudi-Arabien und erklärte, dass es alle Arbeiten in dem Königreich pausiere.
Von dieser Einstellung scheint heutzutage nicht mehr viel übrig zu sein. Der «Guardian» berichtet unter Berufung auf Insidern, die Sorge unter den Vice-Mitarbeitenden sei gross, dass man auf Management-Ebene kritische Berichte über Saudi-Arabien verhindere. Vordergründig, um «die Sicherheit der Mitarbeitenden im arabischen Land zu gewährleisten».
So berichtet der «Guardian» von einem freiberuflichen Journalisten, der zusammen mit zwei anderen Autoren vom News-Team von Vice beauftragt wurde, einen Beitrag über junge Menschen in Saudi-Arabien zu verfassen, die mit viel Gegenwind für die Rechte von Transgender-Personen im Land kämpfen. Der Journalist erzählt, dass die Redakteure von Vice den Beitrag «aktiv begrüsst» hätten.
Als es an der Zeit war, den Beitrag zu veröffentlichen, verschob Vice die Veröffentlichung wiederholt und sagte sie schliesslich ganz ab, so der Journalist. Die Geschäftsleitung habe die Entscheidung damit begründet, dass die Veröffentlichung des Artikels ein Sicherheitsrisiko für die Mitarbeitenden von Vice im Land darstellen könnte, so der Autor. Er selbst glaube aber nicht an diese Version.
Ausserdem habe das Medienunternehmen kürzlich einen online hochgeladenen Film über den Kronprinzen Mohammed bin Salman entfernt, so weitere Quellen gegenüber dem «Guardian». Der Grund, erneut: Die Veröffentlichung des Films könnte die Sicherheit der Mitarbeitenden von Vice in Saudi-Arabien gefährden.
Eine anonyme Quelle berichtete, dass der frühere Nachrichtenchef von Vice sich im vergangenen Jahr an seine Mitarbeitenden gewandt verlauten liess, sie sollten sich eine andere Anstellung suchen, wenn sie den Deal mit Saudi-Arabien nicht unterstützten. Er soll dabei gesagt haben: Wenn die Arbeit für Vice angesichts des Deals «ein Schritt zu weit für Sie als Mensch auf einer persönlichen Ebene» sei, dann «gehen Sie mit Gott. Niemand zwingt Sie, hier zu arbeiten».
Untermalen lässt sich diese Veränderung von Vice auch bildlich. So zeigt der «Guardian» ein Foto eines Bürozimmers von Vice in London. An der Wand hing gemäss den anonymen Mitarbeitenden früher ein Foto von Sarah Everard, einer jungen Frau, die 2021 brutal von einem Londoner Polizisten ermordet wurde. Heute hängt dort eine grosse Landkarte von Saudi-Arabien.
Da muss die Weltwoche nun extrem aufpassen, dass sie noch eine währschafte Schweizer Zeitung bleibt. 🇨🇭