Die westlichen Balkanländer sind überfordert: Im grössten Flüchtlingstreck seit dem Zusammenbruch Jugoslawiens in den 90er Jahren haben sich tausende von Menschen von Mazedonien aus nach auf den Weg nach Norden gemacht. Allein am Wochenende erreichten nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 7000 Flüchtlinge Serbien, am Montag waren es nochmals 2000.
Während der Strom der Menschen, die aus Mazedonien nach Serbien ziehen, nicht abreisst, gelangen bereits weitere Flüchtlinge von Griechenland nach Mazedonien. Die allermeisten Flüchtlinge wollen nicht in Serbien bleiben, sondern über Ungarn weiter nach Mittel- und Nordeuropa. Dies könnte an der Grenze von Ungarn zu dramatischen Szenen führen, denn das EU-Mitglied ist dabei, seine Grenze zu Serbien mit einem 175 Kilometer langen Stacheldrahtzaun abzuschliessen.
Der Ansturm auf die südöstliche Grenze des Schengenraums ist die Folge einer Verlagerung des Flüchtlingsstroms: Mittlerweile gelangen viel mehr Flüchtlinge über Griechenland und den Balkan nach Mitteleuropa als über die gefährliche See-Route von Nordafrika nach Italien. So kamen im Juli nach Angaben des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) über 50'000 Flüchtlinge in Griechenland an – mehr als im gesamten letzten Jahr.
Auch der Präsident der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD), Hans-Jürg Käser, stellt eine Verlagerung von der Route Italien–Schweiz–Deutschland auf die Balkanroute fest. Er erwartet deshalb für die Schweizer Asylzahlen gegen Ende Jahr «eine leicht sinkende Tendenz».
Rund 80 Prozent der Flüchtlinge, die in den letzten Wochen in Griechenland angekommen sind, stammen aus Syrien, wo seit 2011 ein blutiger Bügerkrieg tobt. Aus Afghanistan kommen weitere 14 Prozent, aus dem Irak 3 Prozent. Menschen, die aus diesen konfliktgebeutelten Staaten fliehen, erfüllten in der Regel die Bedingungen für den Flüchtlingsstatus, sagte UNHCR-Sprecher William Spindler.
Das ändert nichts daran, dass kein Staat entlang der Balkanroute diese Flüchtlinge aufnehmen will. So hat beispielsweise das überforderte Bulgarien schon 2013 mit dem Bau eines Stacheldrahtzauns an der Grenze zur Türkei begonnen. Seither ist die Zahl der Asylbewerber im ökonomisch schwächsten EU-Land stark zurückgegangen. Mittlerweile sind es nur noch rund 7000.
Wie schon zuvor, als Griechenland 2012 die Landesgrenze zur Türkei dicht machte und die Flüchtlinge damit nach Bulgarien abdrängte, weicht der Flüchtlingsstrom lediglich auf eine andere Route aus. Seit Bulgarien schwieriger zu erreichen ist, kommen immer mehr Menschen von der türkischen Küste auf die nahen griechischen Inseln, besonders Kos. Von Griechenland führt die Route nun nach Mazedonien. Das UNHCR erwartet, dass in den kommenden Monaten bis zu 3000 Flüchtlinge pro Tag in dem Land ankommen.
Die ehemalige jugoslawische Republik versuchte zuerst, die Flüchtlinge am Grenzübertritt zu hindern, doch nachdem diese Politik scheiterte, setzt Mazedonien nun darauf, die Menschen möglichst schnell durch das Land zu schleusen. Die Flüchtlinge werden mit Sonderzügen nach Norden gebracht, doch die Grenzbahnhöfe Gevgelija an der griechischen Grenze und Tabanovce an der serbischen Grenze sind Engpässe. Dort versuchen Massen von verzweifelten Menschen auf die überfüllten Züge zu kommen.
Serbien, das nächste Transitland auf der Balkanroute, kommt durch diese mazedonische Durchschleuse-Politik in Schwierigkeiten, zumal das Schengenland Ungarn im Norden seinerseits die Grenze dichtmacht. Die Flüchtlinge gelangen so nach Serbien, aber kommen dort nicht weiter. Die erste Station ist für viele Miratovac, wo die serbischen Behörden ein Zeltlager eingerichtet haben. Viele ziehen dann in die Hauptstadt Belgrad und übernachten dort unter freiem Himmel.
Der serbische Regierungschef Aleksandar Vucic hat die griechische Regierung hart kritisiert: «Es ist schon unglaublich, feststellen zu müssen, dass die Migranten den Boden der EU in Griechenland betreten und dort die Behörden offenbar keine Verpflichtung verspüren, die Flüchtlinge zu registrieren.»
Serbien gibt den Flüchtlingen Dokumente aus, die ihnen für 72 Stunden den Aufenthalt im Land gestatten – doch den wenigsten gelingt es, in dieser Frist nach Ungarn zu kommen. Belgrad hat mittlerweile mit Schweizer und deutscher Hilfe an der ungarischen Grenze Container aufgestellt, in denen die Flüchtlinge übernachten können.
Ungarn, dessen Grenze zu Serbien zugleich die Aussengrenze des Schengenraums ist, hat dieses Jahr einen enormen Zuwachs der Asylgesuche zu verzeichnen: Über 32'000 waren es im ersten Quartal. Keinen einzigen von ihnen will die rechtsnationalistische Regierung gemäss Aussage von Innenminister Sandor Pinter aufnehmen. Die meisten Flüchtlinge sehen das Land allerdings ohnehin nur als Durchgangsstation auf dem Weg nach Mittel- und Nordeuropa.
Ungarn baut eilig an seinem Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Serbien. Er soll bis Ende Monat fertig sein und bis Ende November durch einen drei Meter hohen Maschendrahtzaun ergänzt werden. Es ist freilich absehbar, dass sich die Flüchtlinge eine neue Route suchen werden, wenn die ungarische Grenze dicht ist: Entweder über Albanien und die Strasse von Otranto nach Italien oder über Bosnien und Kroatien nach Slowenien.
Eine weitere Gruppe von Migranten, die auf der Balkanroute nach Norden ziehen, sind die Kosovaren. Sie gelangen über Serbien und Ungarn nach Österreich und Deutschland. In der EU sind sie derzeit noch vor den Flüchtlingen aus Syrien die grösste Gruppe unter den Asylbewerbern: Im ersten Quartal 2015 waren es EU-weit fast 50'000.
Die Kosovaren, zum allergrössten Teil junge Männer, verlassen ihre 2008 unabhängig gewordene Heimat, weil sie dort bei 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit keine Zukunft sehen. Doch in der EU haben sie keine Chance auf Anerkennung ihrer Asylgesuche: Nahezu alle werden abgelehnt.
Hier wie da ist die Angst der Bevölkerung vor Ausdünnung der eigenen Identität etwa gleich gross.
Schon als Transitländer wollen sie nicht in Erscheinung treten. Erst recht keinen einzigen Flüchtling über ein unabweisbares Mass aufnehmen. Dafür sind dann andere zuständig.