Während die Diplomaten an einer Lösung arbeiten, greifen die griechischen Sicherheitskräfte zu Blendgranaten und Tränengas. Die Lage an der griechischen Grenze spitzt sich zu. Am Montag gingen die Sicherheitskräfte in Kastanies gegen hunderte Menschen vor.
Am Wochenende hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigt, Geflüchtete in seinem Land nach Europa zu schicken. Auch auf den griechischen Inseln in der Ägäis hat sich die ohnehin dramatische Lage daraufhin verschärft.
Am Montag ertrank ein Kleinkind, als vor Lesbos ein Schlauchboot mit 48 Migranten unterging. Ein Video, das türkische Behörden Medien zuspielten, zeigt offenbar auch, wie die griechische Küstenwache ein Boot mit Geflüchteten gewaltsam abzuwehren versucht.
Der deutsche Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt erlebt diese Szenen gerade vor Ort auf Lesbos. Er ist seit Dienstag auf der Insel. watson rief ihn am Montagnachmittag an.
NEW: The Turkish authorities have sent us this video which they claim was filmed at 0726 this morning off Bodrum. It shows Greek coastguard carrying out ‘pushbacks’ of migrant dinghies. Shots are also fired into the water. More @SkyNews pic.twitter.com/GrlXGNIRTt
— Mark Stone (@Stone_SkyNews) March 2, 2020
Wie ist die Situation gerade vor Ort auf Lesbos?
Erik Marquardt: Die Lage hat sich seit Sonntag nochmal dramatisch verschärft. Es gibt Berichte über ein Kleinkind, das ertrunken ist. Am Sonntag konnte man sich noch frei bewegen. Mittlerweile ist es so, dass die Polizei nicht mehr für die Sicherheit der NGOs hier, der Geflüchteten und auch der Presse sorgen kann.
Was ist passiert?
Hier haben sich rechte Bürgerwehren gebildet, die mit Eisenketten bewaffnet Strassen sperren. Sie versuchen jede Person zu vertreiben, die nicht so aussieht, als komme sie von hier. Auch wir wurden attackiert. Im griechischen Fernsehen sieht man Bilder von hausgemachten bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Man sieht Panzer und Soldaten, die auf der Grenze ankommen. Aber auch in den sozialen Medien sieht man lebensbedrohliche Szenen. Die griechische Küstenwache attackiert ein Boot, da sitzen Leute drin, die tragen nicht mal eine Schwimmweste. Der griechische Premier sagt, er wolle maximale Abschreckung nutzen. Dafür nimmt er offenbar auch Tote in Kauf.
Was sollte man tun, um die Situation auf Lesbos schnell zu verbessern?
Ich fordere, dass man die EU-Grenzschutzagentur Frontex auf die Insel holt. Das ist jetzt notwendig, weil die griechischen Behörden überfordert oder nicht willens sind, Presse, Hilfsorganisationen und Geflüchtete zu schützen. Sie könnten dazu auch beitragen, dass Menschen schneller aus Seenot gerettet werden. Wenn wir nicht schnell für Rechtsstaatlichkeit auf den Inseln sorgen, befürchte ich weitere Tote. Ich habe gehört, dass sich auch Antifa-Gruppen auf den Weg machen, um hier für Recht und Ordnung zu sorgen. Das ist doch absurd, dass die Behörden das hier selbst nicht können.
Wen sehen Sie politisch in der Verantwortung dafür, dass es so weit kommen konnte?
Man kann schon Anstand von den griechischen Behörden erwarten. Aber das hier ist ein europäisches Problem. Erdogan bedroht die ganze EU. Wenn man ihm vorwirft, hier Menschen zu instrumentalisieren, dann kann die Antwort der EU nicht sein: Wir missachten die Menschenrechte. Dann tanzt man nach Erdogans Pfeife. Er will, dass Europa in eine Krisenstimmung verfällt.
Was schlagen Sie daher vor?
Es gibt viele Leute, die sagen: Die Menschen, die hier ankommen, seien keine Schutzbedürftigen. Wenn das die Frage ist, dann haben wir trotzdem Anlass zu prüfen, wer schutzberechtigt ist und wer nicht. Es ist wichtig, nicht nur geltendes Recht und Menschenrechte zu gewähren, wenn es einfach ist. Der Rechtsstaat muss doch besonders in Krisensituationen auch robust sein. Mich wundert, wie unwürdig die EU sich aktuell verhält. Wir könnten die Menschen auf den Inseln schnell umverteilen und Asylverfahren in verschiedenen Ländern durchführen. Dann hätten wir keine Krise.
Was erwarten Sie speziell von Deutschland?
Die Bundesregierung sollte vorangehen und Menschen in geordneten Verfahren überprüfen. Auch, weil die Situation hier auf den griechischen Inseln lebensgefährlich sein kann für die Geflüchteten, die NGOs und die Journalisten. Das ist eine Vorstufe eines Bürgerkriegs hier. An den Aussengrenzen sollte es schnelle Sicherheitschecks und humanitäre Hilfe geben. Der Rest muss anderswo stattfinden.
Gibt es auf Lesbos noch Solidarität in der Bevölkerung mit den Geflüchteten?
Ja, am Sonntag gab es eine Demonstration von jungen und alten Leuten, die sich gegen rassistische Übergriffe gewehrt haben. Sie fordern, dass die Geflüchteten zusammen mit der Bevölkerung demonstrieren, um sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen.
Erdogan hat ja angekündigt, Geflüchtete in seinem Land nach Europa zu schicken. In Idlib fallen weiter Bomben. Da fragt man sich: Was kommt da noch auf uns zu?
Es ist anzunehmen, dass da einige Menschen ankommen werden. Was mich besorgt, ist aber nicht, wenn einige hundert oder tausend Geflüchtete kommen. Mich besorgt etwas anderes. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es hier weitere Tote gibt. Das zu verhindern, muss jetzt oberste Priorität sein. Wir können uns nicht weiter so mittelalterlich verhalten und gucken, wer am Ende die grössere Keule hat.
Sie meinen: Erdogan oder die EU?
Ja. Die Frage ist doch weniger, was Erdogan vorhat. Sondern wie wir uns vorbereiten und wie eine rechtsstaatliche Antwort aussieht. Erdogan will, dass es bürgerkriegsähnliche Zustände gibt. Das darf man ihm nicht bieten.
Sie haben die Tage zuvor auch das Camp auf Moria besucht. Wie ist da die Lage?
Die Grundsituation hier ist, dass Menschen Monate oder auch Jahre warten, bis sie eine Entscheidung über ihren Asylantrag bekommen. Im Camp in Moria gibt es 3000 Plätze, es sind aber 20'000 Menschen zurzeit dort. Es gibt zu wenig Essen, es gibt keine ärztliche Versorgung und keine beheizten Zelte.
Es war schrecklich hier und jetzt ist es noch schrecklicher. Die NGOs können derzeit nicht mehr helfen. Ein Grossteil der Hilfsorganisationen ist nicht mehr vor Ort. Ich verstehe ja, dass es Unmut in der lokalen Bevölkerung gibt. Aber dass man vorgeht gegen die, die helfen, ist doch absurd.
Auf die dramatischen Missstände auf den griechischen Inseln wird seit Jahren aufmerksam gemacht. Aber es ist offenbar nichts passiert. Haben Sie denn Hoffnung, dass nun eine Lösung gefunden wird?
2015 konnten wir lernen, dass man sich auf diese Situationen vorbereiten muss. Aber fünf Jahre später stellen wir fest, dass man immer noch überfordert ist, wenn ein paar hundert Menschen kommen. Das ist erbärmlich. Dass man sich mit dem Türkei-EU-Deal in völlige Abhängigkeit zu einem Despoten begeben hat, kann so nicht weitergehen. Ich hoffe, dass die Politiker die Situation überblicken und zur Besinnung kommen. Auch die europäische Bevölkerung erwartet, dass die Politik an sinnvollen Lösungen arbeitet. Ich bin da, ehrlich gesagt, etwas sprachlos über das, was da in den letzten Tagen passiert ist.
Sind die Bewohner von Lesbos nun mehrheitlich rechtsradikal, oder sind sie einfach verzweifelt und haben die Nase gestrichen voll?