Scherin Abu Akleh ruht nicht in Frieden. Im Gegenteil: Ihr Tod entwickelt sich gerade zum Politikum.
Abu Akleh wurde am Mittwoch angeschossen, während sie für den Fernsehsender Al Jazeera über eine Razzia der israelischen Polizei in der Stadt Dschenin im Westjordanland berichtete.
Eine Kugel traf die 51-jährige Palästinenserin mit amerikanischer Staatsbürgerschaft während diesem Einsatz im Kopf. In kritischem Zustand wurde sie in einen nahegelegenen Spital verfrachtet, wo sie kurz darauf ihrer Verletzung erlag. Abu Akleh hat eine Presseweste getragen, als sie getötet wurde.
Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft sei ihre Leiche zur Autopsie nach Nablus in die Al-Najah-Universität (Westjordanland) überführt worden, wie der Leiter der medizinischen Abteilung bestätigte. Die Ergebnisse wurden noch nicht veröffentlicht.
Unabhängige Stellen haben bis heute nicht abschliessend geklärt, wer für Abu Aklehs Tod verantwortlich ist – wessen Kugel die Journalistin zum Opfer gefallen ist.
Doch ihr Tod wird seit der ersten Stunde von allen Seiten instrumentalisiert: Die Israelis sagen, palästinensische Terroristen hätten die Journalistin erschossen, Al Jazeera und die Palästinenser beschuldigen die Israelis. Bei ihrer Beerdigung am Freitag in Jerusalem eskalierte die Situation beinahe.
Das ist der Tod von Scherin Abu Akleh:
Eine Sprecherin von Al Jazeera sagte am Mittwoch, dass die Palästinenserin aus Ost-Jerusalem mit amerikanischem Pass eine «sehr angesehene Journalistin» gewesen sei und bereits seit 1997 für Al Jazeera über den Nahostkonflikt berichtet habe.
Der pensionierte Al-Jazeera-Reporter Mohamad Hawasch kannte Abu Akleh seit über 25 Jahren. Er honorierte sie als «echte Journalistin»:
Die Tote sei eine mutige Frau gewesen, mit der Millionen von Palästinensern aufgewachsen seien, schrieb der palästinensische Aktivist Fadi Quran.
Abu Akleh war tatsächlich sehr bekannt im arabischen Raum. Ihren berühmten Schlusssatz «Scherin Abu Akleh, Al Jazeera, Ramallah» kennen wohl die meisten Palästinenser – und auch alle anderen regelmässigen Konsumenten von Al Jazeera.
In einem Video spricht Dalia Hatuqa, Nahost-Reporterin unter anderem für die «Washington Post» oder BBC, über ihre enge Freundin:
Am Freitag wurde die katholische Christin in ihrer Heimatstadt Jerusalem auf dem Zionsfriedhof beigesetzt. Die Situation eskalierte beinahe:
In einem Trauerzug wird der Sarg am Freitagmorgen aus dem St.-Josephs-Spital in Ostjerusalem getragen, wo die Leiche über Nacht aufbewahrt wurde. Dabei sehen sich die israelischen Polizeibeamten vor Ort mit zahlreichen fahnenschwenkenden und skandierenden Palästinensern konfrontiert, wie Fernsehbilder zeigen.
Die Polizisten stürmten scheinbar plötzlich auf die Menge zu. Es kommt zu einem Gerangel um die Sargträger. Diese lassen darum den Sarg fast fallen.
"The Israeli army is asking people if they are Christian or Muslim. If you’re Muslim you weren’t allowed in." - @ajimran
— Al Jazeera English (@AJEnglish) May 13, 2022
Israeli occupation forces are attacking Palestinians during the funeral of killed Al Jazeera journalist Shireen Abu Akleh. pic.twitter.com/Xq3VkeOCqn
Abu Aklehs Sarg wird daraufhin in ein Fahrzeug verfrachtet, das zur Kathedrale der Verkündigung der Jungfrau Maria in der ummauerten Altstadt von Jerusalem fährt, wo die Zeremonie friedlich verlaufen sein soll.
Später erklärte die israelische Polizei, dass die Palästinenser begonnen hätten, Steine gegen die Polizisten zu werfen. Deswegen habe man sich gezwungen gesehen zu handeln. Die palästinensischen Behörden haben sich noch nicht geäussert.
Kurz vor 13 Uhr (Ortszeit) wurde Abu Akleh beigesetzt.
Al Jazeera gibt den israelischen Streitkräften die Schuld an Abu Aklehs Tod – spricht sogar von gezieltem Mord von Journalisten.
Der Sender forderte die internationale Gemeinschaft auf, «die israelischen Besatzungstruppen zu verurteilen und zur Rechenschaft zu ziehen, weil sie unsere Kollegen vorsätzlich angegriffen und getötet haben.»
Der Korrespondent Ali al-Samoudi, der mit Abu Akleh unterwegs gewesen war, sagte gegenüber Al Jazeera:
Al-Samoudi wurde ebenfalls von einer Kugel im Rücken getroffen.
Auch die Journalistin Schatha Hanayscha, die direkt neben Abu Akleh gestanden war, als diese erschossen worden war, äusserte sich gegenüber Al Jazeera. Die Gruppe von Journalisten sei direkt angegriffen worden, meint Hanayscha:
In einer Erklärung gab Al Jazeera bekannt: «Wir verpflichten uns, die Täter rechtlich zu verfolgen».
Giles Trendle, Geschäftsführer von Al Jazeera, verkündete, dass die Journalisten weiter machen würden. Man lasse sich nicht zum Schweigen bringen.
Israel hatte öffentlich eine unabhängige Untersuchung des Todesfalles gefordert und betont, dass die palästinensischen Behörden die tödliche Kugel zur gerichtsmedizinischen Untersuchung aushändigen müssten. Auch die EU und die USA drängten auf eine unabhängige Untersuchung.
Der israelische Verteidigungsminister, Benny Gantz, erklärte am Mittwochabend:
Doch Palästina will keine gemeinsame Aufklärung: Der hochrangige Beamte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Hussein al-Scheich erklärte am Donnerstagmorgen auf Twitter auf Englisch, dass die palästinensischen Ermittlungen ohne israelisches Zutun abgeschlossen werden würden – aber unabhängig sein würden. In einem zweiten Post ergänzte er auf Arabisch: «Alle Hinweise, Beweise und Zeugen bestätigen ihre Ermordung durch israelische Spezialeinheiten.»
Dieser Darstellung widerspricht das offizielle Israel vehement: Eine erste Untersuchung der israelischen Armee sei zu dem vorläufigen Ergebnis gekommen, dass es noch unklar sei, ob Abu Akleh von israelischen oder palästinensischen Schützen getroffen worden sei.
Gantz sagt darum:
Die sichergestellte Kugel habe einen Durchmesser von 5,56 Millimetern und sei aus einem M16-Gewehr abgefeuert worden, wie die «Jüdische Allgemeine» unter Berufung auf den israelischen Fernsehkanal Keshet 12 berichtete. Solche Waffen würden sowohl von den israelischen Streitkräften als auch von palästinensischen Extremisten im Westjordanland verwendet.
Der Chef des Generalstabs der IDF betonte in einem Video, dass israelische Streitkräfte gezielt schiessen würden, während die palästinensischen Rebellen wild um sich schössen:
IDF Chief of the General Staff LTG Aviv Kohavi addresses the incident in which reporter Shireen Abu Akleh was killed in Jenin today: pic.twitter.com/t6t1IbXvON
— Israel Defense Forces (@IDF) May 11, 2022
Um abschliessend feststellen zu können, wer das tödliche Geschoss abgefeuert hat, brauche es eine ballistische Untersuchung der Kugel, wie die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) betonten. Die IDF gingen davon aus, dass eine solche Untersuchung zeigen könne, ob Abu Akleh von israelischen Streitkräften oder Palästinensern erschossen worden sei. Aber dafür müsse das Geschoss herausgegeben werden.
Die IDF postete seit dem Tod von Abu Akleh mehrere Videos auf Twitter, in denen betont wird, dass sich in Dschenin palästinensische Terroristen aufhalten würden – und die Anwesenheit der Streitkräfte darum vor Ort richtig und wichtig sei.
In der arabischen Welt scheint die Meinung gemacht zu sein: Israelische Soldaten sind für den Tod von Scherin Abu Akleh verantwortlich. Einige sind sogar überzeugt, dass Israel die Journalistin gezielt ermordet habe. Nachrichten in den sozialen Medien verbreiten diese These denn auch unvoreingenommen.
Und so hat eine Welle der Ergriffenheit das Westjordanland und den Gazastreifen überrollt: Abu Akleh wurde in einer dreitägigen Prozession durch mehrere palästinensischen Städte von Dschenin bis nach Jerusalem getragen – einem der längsten Trauerzüge in der palästinensischen Geschichte überhaupt, wie der Leiter des Palästina-Büros von Al Jazeera, Walid al-Omari, sagte. Ihr Sarg war dabei stets von einer palästinensischen Flagge umhüllt.
In Ramallah, wo sich ein Teil des Sitzes der PA befindet, fand im Zuge dieser Prozession eine offizielle Gedenkfeier statt.
Ein Teilnehmer der Trauerfeier in Ramallah sagte Mail Online:
Ein anderer Trauernder sagte, dass Abu Aklehs Tod eine «Tragödie für die ganze Nation» sei und dass er keinen solchen Schmerz mehr gespürt habe seit dem Tod von Yassir Arafat, der 2004 verstorben war, wie Mail Online schreibt.
Auch im Gazastreifen wurde Abu Akleh gedacht. Der Regierungssprecher der PA, Ibrahim Melhem, sprach von einem «umfassenden Verbrechen gegen eine bekannte Journalistin».
Doch nicht nur die Palästinenser sind von Emotionen aufgewühlt, im ganzen arabischen Raum fanden Kundgebungen im Andenken der Journalistin statt. Dabei kam es auch zu symbolischen Handlungen und Inszenierungen gegen Israel.
Im Libanon demonstrierten Menschen vor dem Sitz der Vereinten Nationen in der Hauptstadt Beirut.
In Tunesien demonstrierten Journalisten vor dem Sitz der nationalen Journalistengewerkschaft (SNJT). Dabei wurden auch Bilder hochgehalten von israelischen Flaggen, die in Flammen stehen.
Im Sudan wurden am Donnerstag Plakate von Abu Akleh auf Demonstrationen mitgetragen, die am Jahrestag früherer Volksaufstände gegen die Militärdiktatur stattfanden.
Am Freitag demonstrierten somalische Journalisten und klagten den Tod von Abu Akleh an:
Somali journalist and editors march in the street of Mogadishu as they strongly condemned the merciless killing of @AJArabic journalist, Shireen Abu Akleh.@anealla @AJEnglish @YaserBi #RIPShireenAbuAkleh pic.twitter.com/xdlVSu3RxH
— Bashir Mohamed Caato (@bashir_caato) May 13, 2022
Der Tod von Scherin Abu Akleh ist ein weiterer destabilisierender Faktor in der aktuell angespannten Situation in Israel. Nur eine unabhängige Untersuchung kann die Todesumstände aufklären. Und Aufklärung ist nötig, damit Abu Akleh nicht weiter instrumentalisiert wird – sondern in Frieden ruhen kann.
Mutzli
Während bei vielem anderem argumentiert werden kann das vieles unklar ist, find ich es gerade im Zusammenhang mit der Beerdigung einer Journalistin ziemlich unpassend, wenn solche Sachen nicht klar benannt werden.
Bonjourayn
Rumi