Bei den schwersten Kämpfen in Syrien seit dem Machtwechsel vor rund drei Monaten haben Sicherheitskräfte der neuen Regierung einem Bericht zufolge auch Hunderte Zivilisten getötet. «Wir sprechen von mindestens 304 Zivilisten», sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel-Rahman, in einem Interview mit der arabischen Abteilung des britischen Senders BBC.
Die in Grossbritannien ansässige Beobachtungsstelle, die den Konflikt über ein Netzwerk von Informanten verfolgt, berichtete von mehreren Massakern in verschiedenen Gebieten an der Mittelmeerküste. Zudem gebe es seit Ausbruch der Kämpfe am Donnerstag Hinweise auf weitere Gräueltaten, «die in den nächsten Stunden dokumentiert werden», sagte Abdel-Rahman weiter.
Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa wandte sich am Freitagabend an die Bevölkerung. Überbleibsel der gestürzten Ex-Regierung hätten mit Angriffen versucht, «das neue Syrien zu testen».
Al-Scharaa lobte die Reaktion der Sicherheitskräfte und rief die Angreifer auf, ihre Waffen niederzulegen. Jeder, der Übergriffe gegen Zivilisten begehe, werde hart bestraft, kündigte der frühere Rebellenchef zugleich an. Berichte über Massaker erwähnte er nicht.
Geheimdienstchef Anas Khatab machte führende Figuren aus dem Militär- und Sicherheitsapparat des gestürzten Ex-Präsidenten für die Zusammenstösse verantwortlich. Diese hätten eine verräterische Operation gestartet, bei der Dutzende Mitglieder von Armee und Polizei getötet worden seien. Sie würden aus dem Ausland gesteuert, schrieb Khatab auf der Onlineplattform X. Tausende Menschen hatten sich in Damaskus und etlichen anderen Städten versammelt, um gegen die bewaffneten Anhänger al-Assads zu demonstrieren.
Die Sicherheitskräfte gehen laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana vor allem entlang der Mittelmeerküste, dem Kernland der alawitischen Minderheit, gegen Anhänger al-Assads vor. In der gebirgigen Küstenregion sind noch bewaffnete Gruppen mit Verbindungen zu der gestürzten Vorgängerregierung aktiv.
Unter anderem in der Stadt Dschabla etwa 25 Kilometer südlich von Latakia, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, soll es zu schweren Gefechten gekommen sein. Laut Sana wehrten Sicherheitskräfte in Latakia einen Angriff auf ein Krankenhaus ab. Für die Stadt und auch die weiter südlich gelegene Küstenstadt Tartus wurden bis Samstagvormittag Ausgangssperren verhängt.
Nach Angaben eines Offiziers verlegte die Übergangsregierung am Freitag grössere Truppenkontingente in die Küstenregion. Seitens der Regierungstruppen seien Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer eingesetzt worden. Insgesamt starben bei den Kämpfen nach Angaben der Beobachtungsstelle für Menschenrechte bislang mindestens 237 Menschen.
Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, zeigte sich «zutiefst besorgt». Er rief in einer Mitteilung alle Seiten auf, von Handlungen abzusehen, «die die Spannungen weiter anheizen, den Konflikt eskalieren, das Leid der betroffenen Gemeinschaften verschlimmern, Syrien destabilisieren und einen glaubwürdigen und integrativen politischen Übergang gefährden könnten». Der Schutz der Zivilbevölkerung müsse gemäss dem Völkerrecht gewahrt werden.
«Es wurden Massaker an der alawitischen Religionsgemeinschaft verübt», sagte der Direktor der in Grossbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel-Rahman. Aktivisten aus der Stadt Idlib, mit denen Journalisten sprechen konnten, machten bewaffnete Unterstützer der Übergangsregierung dafür verantwortlich. Sie sollen sich Befehlen aus Damaskus widersetzt haben. Laut dem syrischen Staatsfernsehen sollen sich Unbekannte mit Uniformen der Regierungstruppen verkleidet und die Taten begangen haben, um einen Bürgerkrieg anzustiften.
Die Aufständischen sind Anhänger des gestürzten Diktators Baschar al-Assad. Der ehemalige Brigadegeneral Ghiath al-Dala ist einer ihrer Anführer. Er hat die Gründung eines «Militärrates zur Befreiung Syriens» bekannt gegeben; sein Ziel sei, «das existierende Regime zu stürzen». Dala soll, so Michael Horowitz von der Nahost-Beraterfirma Le Beck International, der libanesischen Hisbollah und dem iranischen Regime nahestehen.
Zudem soll zumindest ein Teil der Aufständischen der religiösen Minderheit der Alawiten angehören, der auch Ex-Präsident Assad angehört. Die Alawiten folgen im Gegensatz zur überwiegenden sunnitischen Mehrheit der Syrer der Glaubensrichtung der Schia. Die Provinz Latakia gilt als Hochburg von Assad-Getreuen und Alawiten gleichermassen.
Ihnen gegenüber steht die Übergangsregierung der islamistischen HTS (Hayat Tahrir al-Scham) unter Führung des Präsidenten Ahmed al-Scharaa. Sie hatte mit dem Putsch im Dezember und der darauffolgenden Flucht Assads die Macht in Syrien an sich genommen. Zwar gab es seither weiter vereinzelte Kämpfe, doch war seit der Machtübernahme mehrheitlich Ruhe in das 13 Jahre vom Bürgerkrieg geplagte Land eingekehrt.
Im vergangenen Monat hatten Milizen der HTS in Latakia mehrere hundert (mutmassliche) Assad-Anhänger festgenommen und nach Medienberichten dutzende erschossen. Auf Twitter (neu X) kursieren Videos, die zeigen sollen, wie Alawiten an Autos festgebunden durch die Strassen geschleift werden. Die Authentizität dieser Aufnahmen konnte nicht unabhängig überprüft werden.
Zudem hatte al-Scharaa sich seit Dezember laufend mit führenden Vertretern von christlichen und kurdischen Minderheiten getroffen – die Alawiten blieben aussen vor. Ein Verband alewitischer Geistlicher hat Scharaas Regierung vorgeworfen, sie benutze den Kampf gegen Assad-Anhänger als Vorwand, syrische Bürger «zu terrorisieren und zu töten».
Übergangspräsident al-Scharaa rief nun «alle Kräfte, die sich an den Kämpfen beteiligt haben» auf, sich den Befehlshabern des Militärs zu unterstellen und «die Stellungen unverzüglich zu räumen, um die aktuellen Verstösse zu kontrollieren». Für den früheren Rebellenchef sind die Auseinandersetzungen der erste grosse Test seit der Machtübernahme.
«Die Überbleibsel des alten Regimes nutzen die begrenzten militärischen und sicherheitspolitischen Kapazitäten der syrischen Regierung aus, um den politischen Übergang in Syrien zu behindern», erklärte Lina Khatib von der Denkfabrik Chatham House dem «Wall Street Journal». Al-Schaaras Regierung stehe vor dem Dilemma, hart genug gegen Anhänger Al-Assads vorzugehen, um einen ausgewachsenen Aufstand zu verhindern - ohne aber die Alawiten zu verprellen, die um ihre Zukunft bangten und Angriffe erlebten, so die Zeitung.
Diktator Assad hatte Syrien mehr als zwei Jahrzehnte regiert. Nach einer Blitzoffensive unter Führung der Islamistengruppe HTS Ende vergangenen Jahres floh er nach Russland. Die neue Übergangsregierung unter Führung von al-Scharaa versucht seitdem die Sicherheit im Land wiederherzustellen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Al-Scharaa versprach bei Amtsantritt, alle Gruppen in dem Land in einen Prozess der politischen Erneuerung einzubeziehen und Menschenrechte zu achten. Er hofft damit auf Aufhebung westlicher Sanktionen gegen Syrien.
Die Türkei, die sich seit der Machtübernahme stark für die Regierung der HTS eingesetzt hat, sprach Damaskus ihre Unterstützung zu. Die Gefechte könnten Bemühungen um Einheit in Syrien untergraben, erklärte die Regierung in Ankara.
Auch Saudi-Arabien gilt als Verbündeter al-Scharaas. Aus Riad hiess es, man verurteile «Verbrechen illegaler Gruppen» in Syrien und stehe an der Seite der syrischen Regierung.
(dsc/cpf)