Während im Hintergrund über Waffenstillstände diskutiert wird, halten die Bombardierungen im Gaza-Streifen an. Israel hat angekündigt, die Stadt im Norden komplett einnehmen zu wollen. Mittendrin: Sonam Dreyer-Cornut. Die Walliser Pflegefachfrau ist in regelmässigen Abständen vor Ort für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Derzeit arbeitet sie in einem Spital in Gaza City, wo sie ein regionales Team leitet und koordiniert.
Sie sind seit zehn Tagen zurück in Gaza. Wie ist die Lage vor Ort?
Sonam Dreyer-Cornut: Es ist katastrophal. Es bewegen sich nach wie vor 1,2 Millionen Menschen auf extrem engem Raum, der grossflächig zerstört wurde. Überall stehen halb kaputte Zelte, die Menschen schlafen zwischen den Trümmern und auf den Strassen. Es fehlt an allem: an Platz, an Unterkünften, an Nahrung, an Wasser.
Sie waren zuletzt von März bis Mai vor Ort. Was hat sich seither verändert?
Ich dachte schon damals, es könne nicht mehr schlimmer werden. Aber jetzt sind wir am Punkt der totalen Verzweiflung angelangt. Im Frühling gab es noch vereinzelt Autos und Karren, die von Eseln gezogen wurden. Die sind nun mehrheitlich verschwunden, es gibt auch keinen Treibstoff mehr. Die Menschen hier leiden Hunger, er trifft alle sozialen Schichten. Alle haben sichtlich viel Gewicht verloren. Einige meiner Kollegen habe ich kaum wiedererkannt.
Seit Monaten sind die Grenzen des Gaza-Streifens dicht, Nahrungs- und Materiallieferungen nur sehr beschränkt möglich. Was können Sie in den Spitälern noch tun?
In Gaza City bleiben uns noch zwei, vielleicht drei Spitäler, die täglich Verwundete wegen der Bombardierungen und Luftangriffe aufnehmen. Wir behandeln sie so rasch wie möglich und schicken sie schnellstmöglich wieder weg, um Platz für die Nächsten zu machen. Aber wir arbeiten mit dem, was wir haben. Die wenigen Operationssäle, die in der Stadt noch verbleiben, reichen nicht aus, um den Bedarf zu decken.
Inwiefern?
Viele Patienten benötigen Hauttransplantationen für die Verletzungen und Verbrennungen durch die Explosionen. Weil es so viele sind, braucht es Wartelisten. Die schwersten Fälle müssen zuerst operiert werden. Einige Patienten warten seit Wochen oder sogar Monaten. Das Pflegepersonal versucht, sie so gut wie möglich zu versorgen.
Seit kurzem scheint Israel die Blockade etwas gelockert zu haben. Gemäss israelischen Behörden sind nun wieder Lebensmittellieferungen möglich.
Auf den Märkten tauchen nun wieder vereinzelt Säcke mit Mehl und Zucker auf. Aber sie sind unbezahlbar. Während des Waffenstillstands zum Jahresbeginn fuhren täglich mehr als 500 Lastwagen in den Gaza-Streifen, um die Bevölkerung zu versorgen. Jetzt sind es nur ein paar wenige. Und das reicht bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken.
Gleichzeitig hat der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu angekündigt, den gesamten Gaza-Streifen einnehmen zu wollen. Für Gaza City wurden erneut Evakuierungen angekündigt. Was heisst das für die Menschen dort?
Sie stehen wieder vor einer Umsiedlung. Das bedeutet viel Angst und Unsicherheit: Sie wissen nicht, wann, wie und wohin sie gehen können. So vieles ist unklar: Ob der angekündigte Plan wirklich umgesetzt wird, und wenn ja, wie. Es ist schwer, solche Entscheidungen für sich und die ganze Familie zu treffen. Dazu kommt die Traurigkeit, die Angst, wieder alles zu verlieren. Ihre Häuser wurden zerstört, die meisten haben alles verloren, was sie nicht tragen konnten. Es gibt keinen anderen Ort mehr, an den sie gehen könnten.
Israel hat im Süden des Gaza-Streifens sogenannte «sichere Zonen» für die Zivilbevölkerung definiert. Warum reicht das nicht?
Diese Zonen sind winzig. Auch dort kommt es immer wieder zu Schüssen und Bomben, zu Verletzten und Toten, vom Hunger ganz zu schweigen. Die Kampfzonen werden ausserdem fast täglich ausgeweitet, die «grünen Zonen» immer kleiner. Dabei sind sie schon jetzt komplett überfüllt. Es gibt längst keinen Platz mehr für all die Menschen – und es kommen täglich mehr dazu. (aargauerzeitung.ch)