Gerade mal zehn Kilometer sind es von Jamel bis zur Ostseeküste. Die Strasse zum Dorf ganz im Norden Mecklenburg-Vorpommerns ist als Sackgasse gekennzeichnet. 40 Menschen wohnen hier. Beim ersten Haus nach dem Ortsschild begrüsst einen das laute Gebell zweier deutscher Schäferhunde unfreundlich.
Etwas weiter vorn wirbt Sven Krüger in Frakturschrift für sein Abbruch- unternehmen. «Wir sind die Jungs fürs Grobe», steht auf dem Schild, das der mehrfach vorbestrafte, landesweit bekannte Neonazi angebracht hat. Krügers Fahrzeug trägt das Kennzeichen «Jam-el 88».
Die 88 ist ein Nazi-Code für «Heil Hitler». Auf einer Hausfassade in Jamel ist ein Wandgemälde angebracht. Es zeigt das Nazi-Ideal einer arischen Familie. Darüber die Worte: «Treu sind Mecklenburger Herzen – von Freiheit singt der Wind.»
Die Häuseransammlung im hohen Norden gilt als Hochburg der deutschen Rechtsextremen. Als «Nazi-Dorf» hat sich der kleine Ort einen unrühmlichen Ruf eingebrockt. Fast alle der 40 Bewohner gehören der Neonaziszene an. Doch hier in Jamel wohnt auch das Ehepaar Birgit und Horst Lohmeyer. Die beiden sind vor 16 Jahren aus dem Hamburger Szene-Kiez St.Pauli in die sattgrüne Landschaft gezogen.
Eine Gegend, die eigentlich idyllisch wäre, umgeben von Wiesen und Wäldern. Sie haben ein denkmalgeschütztes Forsthaus am Dorfrand erworben, mitsamt 7500 Quadratmeter Land. Die Lohmeyers haben hier eigentlich Ruhe gesucht. Stattdessen gab es Drohungen, eine Brandstiftung. Zeitweise standen die beiden unter Polizeischutz.
Ihr Grundstück ist nun gut gesichert, Kameras überwachen alles, was rund ums Haus herum passiert. «Wir wollten uns zurückziehen», sagt Birgit Lohmeyer, 61. Und Horst, 63, fügt hinzu: «Heute aber führen wir einen Stellvertreterkrieg für eine tolerante Gesellschaft.» Die Lohmeyers haben eine Mission: Sie wollen ihren Nachbarn, den Neonazis, entschieden entgegentreten.
Seinen Ruf als «Nazi-Dorf» hat Jamel primär einem zu verdanken: Sven Krüger. Der 46-Jährige sitzt heute im Gemeinderat von Gägelow, die politische Gemeinde, zu der auch Jamel gehört. Krüger hat eine dicke Polizeiakte, war bei der Nazi-Vereinigung Hammerskins, sass ein wegen schwerer Körperverletzung, räuberischer Erpressung, Landfriedensbruchs und illegalen Waffenbesitzes, um nur einige Punkte zu nennen. Jamel wollte er zu einer «national befreiten Zone» machen. Im Dorf hing eine Zeit lang die verbotene Reichskriegsflagge, ein Wegweiser zeigt den Weg nach Braunau am Inn, dem Geburtsort von Adolf Hitler. 855 Kilometer entfernt.
Um das Jahr 2000 herum begann Krüger hier Immobilien aufzukaufen und gab die Häuser an Gesinnungsgenossen weiter. «95 Prozent der Bewohner gehören der Neonaziszene an», erzählt Birgit Lohmeyer. Die letzte Wahl um den Einzug in den Gemeinderat verlor die SPD-Politikerin gegen Neonazi Krüger klar und deutlich.
Doch für ihren Kampf gegen den Rechtsextremismus brauchen die Lohmeyers keine politischen Mandate. Sie haben andere Mittel gefunden, um den Neonazis in Deutschlands Norden auf die Füsse zu treten. Seit 2007 veranstalten sie in ihrem Garten ein Open-Air-Festival. «Jamel rockt den Förster» heisst der Anlass. Hätte die Coronakrise nicht alles durcheinandergebracht, hätte das kleine Festival auch in diesem August über die Bühne gehen sollen.
Wer auftritt, geben die Lohmeyers im Vorfeld nie bekannt, doch die 1200 Karten für «Jamel rockt den Förster» sind jeweils im Nu verkauft. Denn die Musiker, die in Lohmeyers Garten auftreten, tragen grosse Name: Die Ärzte, Die Toten Hosen, Herbert Grönemeyer und die Band Alphaville: Alle waren sie schon hier in Jamel. Und stets vertreten ist auch die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern. «Vielleicht», sinniert Birgit Lohmeyer, «hinterfragen wenigstens einige der Leute hier in Jamel ihre Ideologie, wenn sie sehen, dass sich Die Ärzte und Grönemeyer mit uns solidarisieren.»
Manchmal, sagt Horst Lohmeyer, sehne er sich nach seinem alten Leben. Seitdem Unbekannte 2005 ihre Scheune in Brand gesteckt haben, hat sich das Leben des Ehepaars verändert. Die Urheber des Brandanschlages wurden nie gefunden, doch wer dahinter steckt, daran besteht für die beiden kein Zweifel. «Ich habe ein Jahr gebraucht, um wieder in Normalität zu leben», sagt Birgit Lohmeyer. Doch Wegziehen kommt für die beiden nicht in Frage. «Würden wir fortgehen, hätten die Nazis gewonnen», sagt sie.
Es war eine Mischung aus Zufall und Naivität, die die beiden zu Vorkämpfern gegen den Rechtsextremismus werden liess. Als sie 2004 nach Jamel zogen, hatten sie sich nicht darüber erkundigt, wofür dieses Dorf genau steht. Heute ist ihr hübsches Haus unverkäuflich. «Jamel», sagt Horst Lohmeyer, «ist für viele ein No-go-Area.» Genau deshalb sei es wichtig, dass sie hier sind – und hier bleiben.
Lohmeyers Engagement gegen rechts hat Jamel verändert, hat dem Dorf einen neuen Anstrich verpasst. Die Gefahr, die von der Neonaziszene ausgeht, ist aber längst nicht gebannt. Das zeigen aktuelle Zahlen, die das deutsche Innenministerium diese Woche veröffentlicht hat. Die Fälle politisch motivierter Straftaten aus dem rechtsextremen Lager haben 2019 zugenommen. Innenminister Horst Seehofer sagt, es gebe «allen Grund, mit höchster Wachsamkeit vorzugehen». Der Rechtsextremismus ziehe eine «lange Blutspur» durchs Land: von den Taten des NSU über die Anschläge von München, Halle und Hanau. «Die grösste Bedrohung», betonte Seehofer, «ist nach wie vor die Bedrohung von rechts.» Daran ändert vorläufig auch das Engagement der Lohmeyers nichts.