Dass Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin und der russische Präsident Wladimir Putin keine besten Freunde sind, ist schon seit Längerem bekannt. Der Zwist, der sich in den vergangenen Wochen immer mehr zugespitzt hat, hat sich nun aber in eine offene Konfrontation gewandelt. Prigoschin warf Russland gestern Abend einen Angriff gegen Wagner-Soldaten vor, wofür er sich jetzt rächen möchte. Eine Chronologie der Ereignisse.
Moskaus Militärführung habe seine Söldner angegriffen. Diesen schwerwiegenden Vorwurf äusserte Prigoschin in einer Sprachnachricht, die am Freitag nach 21 Uhr (Ortszeit) von seinem Pressedienst auf Telegram verbreitet wurde. Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu sei extra an die nahe der ukrainischen Grenze gelegene Millionenstadt Rostow am Don gekommen, um die Wagner-Lager im Hinterland mit Artillerie, Hubschraubern und Raketen angreifen lassen, so Prigoschin. Eine grosse Anzahl seiner Söldner sei ums Leben gekommen. Er drohte:
Dann wurde er konkret:
Wer versuche, Widerstand zu leisten, werde als Bedrohung betrachtet und sofort getötet, so Prigoschin weiter.
Das Verteidigungsministerium wies die Vorwürfe umgehend zurück. Alle Anschuldigungen seien falsch und eine «Provokation», hiess es in einer am Abend verbreiteten Erklärung des Ministeriums.
Auch das Nationale Anti-Terror-Komittee äusserte sich und nannte die Vorwürfe haltlos:
Dem Komitee gehören neben dem FSB praktisch auch alle anderen russischen Sicherheitsorgane an. Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte, Präsident Wladimir Putin sei über den Fall informiert.
Daraufhin meldete sich auch Prigoschin wieder auf Telegram zu Wort:
Die Handlungen von Wagner würden den Aktivitäten der russischen Streitkräfte in der Ukraine nicht schaden, fügte er hinzu.
Moskaus kritische Einrichtungen seien unter verstärkten Schutz gestellt und die Sicherheitsmassnahmen in der Hauptstadt seien erhöht worden, teilte eine Quelle in den Strafverfolgungsbehörden gegenüber der russischen Nachrichtenagentur TASS mit. Zudem seien Spezialeinheiten der russischen Nationalgarde in volle Alarmbereitschaft versetzt worden.
Wenig später meldete sich auch noch der FSB persönlich zu Wort. Die Äusserungen Prigoschins seien ein Aufruf zum «Beginn eines bewaffneten gesellschaftlichen Konflikts und ein Dolchstoss in den Rücken der russischen Soldaten, die mit den profaschistischen ukrainischen Kräften kämpfen».
Weiter riefen sie die Söldner der Wagner-Truppe dazu auf, ihren Chef festzunehmen:
In einer Videobotschaft schlug sich der wichtige russische Armeegeneral Sergej Surowikin auf die Seite des Machtapparats in Moskau. Surowikin rief Prigoschin dazu auf, den Machtkampf zu beenden. «Der Gegner wartet nur darauf, bis sich bei uns die innenpolitische Lage zuspitzt.»
Surowikin gilt eigentlich als Verbündeter Prigoschins, entschied sich nun aber allem Anschein nach zur Loyalität dem Kreml gegenüber. «Wir dürfen nicht dem Gegner in die Hände spielen – in dieser für das Land schweren Zeit», so Surowikin.
Er rief dazu auf, sich dem «Willen und dem Befehl des vom ganzen Volk gewählten Präsidenten der Russischen Föderation unterzuordnen».
Prigoschin liess sich von all dem nicht beeindrucken. Er wolle in der Stadt Rostow am Don in der Region an der Grenze zur Ukraine einmarschieren, teilte er auf Telegram mit. Dort befindet sich das Hauptquartier der russischen Armee für den Süden des Landes. Mit Blick auf Aufrufe der russischen Ermittler, ihn festzunehmen, sagte er, dass seine Truppe eine Brüderschaft verbinde. Sie seien keine Verräter.
Prigoschin behauptete zudem, dass die Wagner-Söldner von russischen Grenztruppen mit Umarmungen empfangen worden seien. Sie würden noch weiter als bis Rostow marschieren. Derweil berichteten lokale Medien in Rostow am Don, dass dort bereits seit langer Zeit eine Basis der Privatarmee Wagner in Betrieb sei. Die Söldner seien also schon da gewesen.
In der Hauptstadt Moskau hat Bürgermeister Sergej Sobjanin «Anti-Terror-Massnahmen» in Kraft gesetzt. Es seien etwa bereits verstärkte Verkehrskontrollen auf den Strassen eingeführt worden, schrieb er am Samstagmorgen auf seinem Telegram-Kanal. Ausserdem seien Einschränkungen von Massenveranstaltungen möglich. «Infolge der eingehenden Informationen werden in Moskau Anti-Terror-Massnahmen zur Stärkung der Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt», schrieb Sobjanin. Er bat die mehr als 13 Millionen Einwohner der Metropole um Verständnis.
Auch der Gouverneur der Region um Moskau, Andrej Worobjow, schrieb auf Telegram von hochgefahrenen Sicherheitsvorkehrungen. Worobjow rief die Menschen zudem auf, wenn möglich auf private Autofahrten in Richtung Südrussland zu verzichten, wo die Situation derzeit besonders angespannt ist.
🚨 Prigozhin issued his first public address from the headquarters of the Southern Military District in Rostov-on-Don, a city with a population of 1.1 million, which Wagner PMC now fully control.
— Igor Sushko (@igorsushko) June 24, 2023
English subtitles. pic.twitter.com/SDg4astcaY
«Unter unserer Kontrolle befinden sich Militärobjekte Rostows, darunter auch der Flugplatz», sagte Prigoschin in einem am Samstagmorgen veröffentlichten Video. Er behauptete, in der Stadt in der Grenzregion zur Ukraine kontrollierten seine Kämpfer auch das Hauptquartier der russischen Armee für den Süden des Landes. Unabhängig überprüfen liess sich das zunächst nicht.
Prigoschin sagte in dem Video ausserdem, vom Flugplatz in Rostow starteten weiter planmässig Kampfflugzeuge für den Krieg gegen die Ukraine. «Die Flugzeuge (...) heben planmässig ab.»
Nach 9 Uhr wandte sich Putin in einer Fernsehansprache an das russische Volk. Jede innere Unruhe stelle eine tödliche Bedrohung für die russische Staatlichkeit und für Russland als Nation dar, so Putin. Sie sei ein Schlag für Russland und sein Volk. Er versprach:
1) Putin speaks on Prigozhin.
— Clandestine (@WarClandestine) June 24, 2023
Putin says we are witnessing treason, but there is no ongoing civil war.
There was no mention of danger to the Russian citizenry. There has been no confirmed kinetic hostilities between PMC Wagner and Russian MoD.
Prigozhin wants a meeting. pic.twitter.com/ZGPJ8iCm9R
Weiter bestätigte er die Präsenz von Wagner-Truppen in Rostow am Don. Die Arbeit von zivilen und militärischen Behörden sei faktisch blockiert worden, doch man werde entschiedene Massnahmen ergreifen, um die Lage zu stabilisieren, verspricht Putin.
Ukrainische Soldaten an der Front erlauben sich derweil einen Spass und zeigen sich, wie sie Popcorn essend die neusten Entwicklungen verfolgen:
Ukrainian soldiers at the front follow the coup attempt in Russia by eating popcorn.#Wagner #Russia #Moscow #Prigozhin pic.twitter.com/oRx668x8jM
— Volkan Ayhan (@vayhan49) June 24, 2023
Gegen Mittag meldeten die Behörden Kämpfe im Gebiet Woronesch im Südwesten des Landes. «Im Rahmen einer Anti-Terror-Operation führen die Streitkräfte der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Region Woronesch notwendige operativ-kämpferische Massnahmen durch», schrieb Gouverneur Alexander Gussew am Samstagmittag auf Telegram. «Ich werde weiter über die Entwicklung der Lage informieren.» Unabhängig überprüfen liessen sich die Angaben zunächst nicht.
Gussew erläuterte nicht konkret, gegen wen die Armee im Gebiet Woronesch kämpft. Zuvor hatte es allerdings Berichte gegeben, dass die aufständischen Wagner-Kämpfer dort einzelne militärische Einrichtungen besetzt hätten. Das gleichnamige Gebietszentrum ist rund 470 Kilometer von der Hauptstadt Moskau entfernt. Es liegt ungefähr auf halber Strecke zwischen Moskau und Rostow am Don.
(saw mit Material der Nachrichtenagenturen sda und dpa.)