Dass Wladimir Putin ein Diktator ist, ist längst erwiesen. Der Kreml hat es selbst bestätigt. «Es gibt keine grössere Macht als das Wort des Präsidenten», sagte der Vorsitzende des Russischen Föderationsrats im Dezember 2022. Das Gremium ist das Oberhaus des Parlaments und Putin treu ergeben.
Auch nach wissenschaftlichen Kriterien kann Russland inzwischen als Diktatur angesehen werden. Keine wichtige Entscheidung wird ohne Zustimmung des Machthabers gefällt. Und so waren sich alle (westlichen) Experten schnell einig, dass Alexej Nawalny sehr wahrscheinlich eines nicht natürliches Todes starb. Die russische Opposition und Menschenrechtler werfen dem russischen Machtapparat unter Putin sogar Mord vor.
Dass der Kreml direkt am Tod Nawalnys beteiligt gewesen sein könnte, dafür gibt es inzwischen ernst zu nehmende Hinweise. So berichtet das russische Oppositionsportal Meduza.org unter Berufung auf die Menschenrechtswebseite Gulagu.net von zahlreichen Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit dem Ableben Nawalnys. Etwa von einer Beteiligung des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB.
Dem unabhängigen russischen Onlineportal Gulagu.net ist es offenbar gelungen, Kontakt zu einem Mithäftling Nawalnys aufzunehmen, der die Ereignisse am Tag vor der offiziellen Todesmeldung schildert. Diese wurde am 16. Februar veröffentlicht. Schon am Abend zuvor seien jedoch zwei FSB-Offiziere in die Strafkolonie Nr. 3 «Polarwolf» in Sibirien gekommen und hätten mutmasslich Kameras und Abhörgeräte demontiert. Die «hätten aufzeichnen können, was am 15. Februar mit Alexej Nawalny passiert ist», so der Insasse. Laut Gulagu.net ist dieser Besuch sogar in einem Bericht einer Zweigstelle des Bundesstrafvollzugsdienstes des autonomen Kreises der Jamal-Nenzen erwähnt worden.
Wie die kremlkritische «Nowaja Gaseta Europa» weiterhin berichtet, sei es an dem fraglichen Abend im Straflager zu einem «Aufruhr» gekommen, weil das Wachpersonal eine beschleunigte Abendkontrolle durchgeführt habe. Dies sei sehr ungewöhnlich, da eine solche Kontrolle normalerweise nur vor Feiertagen passiere. «Sie sperrten uns in den Baracken ein, warnten uns davor, uns zwischen den Baracken zu bewegen, und verstärkten die Wachen», zitiert die Zeitung ebenfalls einen Häftling.
Der Mithäftling spricht zudem davon, dass sich die Aufregung in der Strafkolonie Nr. 3 auch am Morgen des 16. Februar fortgesetzt hätte. Demnach habe das Wachpersonal «Mobiltelefone, Landkarten und sogar Heizkessel» vorübergehend beschlagnahmt, die Insassen vermuteten eine allgemeine Inspektion. Jedoch werde eine solche in der Regel mit wochenlangem Vorlauf angekündigt. Stattdessen sei eine «Kommission erschienen», so der Häftling. Um welche Art Kommission es sich handelte, benennt der Bericht nicht.
Ebenfalls ungewöhnlich ist die Chronologie der Todesmeldung Nawalnys. Laut offiziellen Angaben russischer Behörden soll der Tod des inhaftierten Putin-Gegners am 16. Februar um 14.17 Uhr eingetreten sein. Nach einem «Spaziergang» habe der 47-Jährige plötzlich über Unwohlsein geklagt und dann das Bewusstsein verloren, heisst es.
Schon zwei Minuten später, um 14.19 Uhr, so schreibt Gulagu.net auf seinem Telegramkanal, habe der Föderale Strafvollzugsdienst für den Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen eine entsprechende Pressemitteilung auf seiner offiziellen Website veröffentlicht. Und wiederum eine Minute darauf, um 14.20 Uhr, hätten die staatlichen Nachrichtenagenturen Tass und Ria Novosti den Tod des «Sträflings Nawalny» verkündet.
Sie zitierten aus der Mitteilung des Strafvollzugsdienstes, wonach «alle notwendigen Wiederbelebungsmassnahmen ohne positive Ergebnisse durchgeführt» wurden. «Die Rettungswagenbesatzung erklärte den Verurteilten für tot», hiess es. Unklar ist, wie die staatlichen Nachrichtenagenturen so schnell an die Informationen über Nawalnys Tod kommen und diese dann auf ihrer Seite berichten konnten.
Doch das Muster setzt sich fort: Sechs Minuten nach Nawalnys offiziellem Ableben, um 14.23 Uhr, wusste der staatlichen Behörden nahestehende Telegramkanal 112 dann schon, dass von russischen Behörden ein «Blutgerinnsel» als wahrscheinliche Todesursache angenommen wird. Und um 14.30 Uhr bestätigt Kremlsprecher Dmitri Peskow, dass Putin über Nawalnys Tod informiert worden sei – weniger als eine Viertelstunde, nachdem der Tod Nawalnys eingetreten sein soll.
Wie die Behörden so kurz nach dem verlautbarten Todeszeitpunkt Nawalnys schon die Ursache «Blutgerinnsel» nennen können, das fragen sich nicht nur die Menschenrechtler von Gulagu.net, sondern auch Vertraute des Dissidenten. Sie vermuten, dass der prominente Antikorruptionskämpfer schon in der Nacht zuvor umgebracht worden sein könnte.
Und die Merkwürdigkeiten setzen sich fort. Denn auch am Sonntag, zwei Tage nach dem Tod Nawalnys, hatten die Angehörigen noch keinen Zugang zur Leiche erhalten. Seine Mutter Ljudmila Nawalnaja hatte im Straflager «Polarwolf» nur die Todesnachricht erhalten. Obwohl ihr mitgeteilt wurde, dass sich sein Leichnam in der Stadt Salechard zur Untersuchung befinde, konnten die Anwälte den Toten dort zunächst nicht ausfindig machen.
Mehr als 12'000 Menschen in Russland forderten laut Bürgerrechtlern in einem Aufruf, den Leichnam des ums Leben gekommenen Politikers an die Hinterbliebenen zu übergeben. Die Bürgerrechtsplattform OWD-Info hatte die Petition erst am späten Samstagnachmittag gestartet. Die Herausgabe müsse schnell erfolgen, heisst es in der Erklärung: «Wenigstens nach seinem Tod sollte Alexej Nawalny bei seinen Angehörigen sein.»
Dass der Leichnam inzwischen in der Leichenhalle des Bezirkskrankenhauses in Salechard, rund 50 Kilometer von der Strafkolonie «Polarwolf» entfernt, aufbewahrt werde, sei ebenfalls ein unüblicher Vorgang, so «Nowaja Gaseta». Normalerweise würden die Leichen der in der Strafkolonie Verstorbenen direkt in die Gerichtsmedizin gebracht und nicht in die Leichenhalle des Bezirkskrankenhauses, schrieb die Zeitung unter Berufung auf einen Sanitäter des medizinischen Notfalldienstes von Salechard.
«Sie haben die Leiche zur Leichenhalle [der Klinik] gefahren, ihn hineingeschoben und dann zwei Polizisten vor der Tür aufgestellt, die den Eingang bewachen. Genauso gut hätten sie auch ein Schild aufstellen können, auf dem steht: ‹Etwas Mysteriöses geht hier vor sich›», so der Sanitäter. Eine Obduktion habe zumindest bis Samstag noch nicht stattgefunden. Zudem soll der Körper des Toten blaue Flecken aufweisen.
Hat es vor Nawalnys Tod in der Strafkolonie einen Kampf gegeben? Und wie können die Behörden über die Todesursache informieren, wenn noch keine Obduktion stattgefunden hat? Diese Fragen beschäftigen nicht nur Nawalnys Angehörige. Aufschluss darüber könnte die Leiche des Oppositionellen geben.
Doch der Anwalt Jewgeni Smirnow befürchtet laut der Nachrichtenagentur DPA, die staatlichen Ermittler könnten den Toten über lange Zeit vor der Öffentlichkeit verstecken. So könne nach der ersten Überprüfung ein Strafverfahren eingeleitet werden, um weitere Manipulationen vorzunehmen. «Einen juristischen Grund zu finden, um den Leichnam Monate oder sogar länger einzubehalten, ist sehr einfach», sagte er. Sollte Nawalny nicht binnen fünf Tagen an seine Angehörigen übergeben werden, bestehe dringender Verdacht, dass etwas vertuscht werden solle, mutmasste er.
Andere Beobachter vermuten, dass die Behörden Nawalnys Leichnam aufgrund der anstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland vorerst nicht herausgeben. Die Beerdigung des Kremlgegners, so die Befürchtung, könnte in der Bevölkerung Proteste auslösen, die Putin ungelegen kommen könnten. Der Kremlchef, der vor vier Jahren extra die Verfassung geändert hat, um für eine weitere Amtszeit antreten zu können, will sich zum fünften Mal als Präsident wählen lassen. Dass es sich bei dieser Wahl um eine Scheinwahl handeln wird, wie es in Diktaturen üblich ist, gilt als sicher.