Dient Putins Säbelrasseln nur dazu, um am Verhandlungstisch mit dem Westen seine Ziele zu erreichen? Bild: keystone sda
4 Fragen, 2 Ansichten: So unterschiedlich stufen Experten eine russische Invasion ein
Greift Russland die Ukraine an oder nicht? Selbst am Schweizerischen Center for Security Studies der ETH Zürich ist man in dieser Frage geteilter Meinung. Eine Gegenüberstellung.
Die Frage, ob Russland eine Invasion in der Ukraine riskiert, ist omnipräsent. Einen klaren Konsens darüber gibt es selbst in Fachkreisen nicht. Das zeigt ein Telefonat mit zwei Forschern des Schweizerischen Center for Security Studies an der ETH Zürich.
Wir erinnern uns: Die russische Invasion, die die US-Geheimdienste, westliche Politiker und Medien für den gestrigen Mittwoch angekündigt hatten, blieb aus. Im Voraus sorgte sie schon für eine beachtliche Debatte, doch je näher der 16. Februar rückte, desto lauter wurden die Zweifel am Angriff. Jetzt gibt es Diskussionen darüber, ob Russland – wie vom Kreml verkündet – seine Truppen abgezogen hat. Die Nato und Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj stufen das als Falschinformation ein.
Mit den unterschiedlichen Darstellungen drängen sich Fragen auf. watson hat sie dem Politologen Benno Zogg und dem Militär-Experten Niklas Masuhr gestellt. Sie forschen beide zum Russland-Ukraine-Konflikt am Center for Security Studies der ETH Zürich. Vier Fragen und zwei unterschiedliche Ansichten:
Das Invasionsdatum, der 16. Februar, ist ereignislos verstrichen. Wird Russland in der Ukraine einfallen?
Niklas Masuhr: Das Risiko ist weiterhin hoch. Seriöse Analystinnen und Analysten haben bereits letztes Jahr darauf hingewiesen, dass ein Angriff im Zeitfenster Mitte-Ende Februar am wahrscheinlichsten ist. Die Administration um US-Präsident Biden hat letzte Woche von einer erhöhten Gefahr ab dem 16. Februar gesprochen. Das ist also durchaus konsistent mit dem Zeitplan, von dem man ausging.
Benno Zogg: Ich halte das für ein politisches Spiel, ein Wechselbad zwischen Zeichen eines Angriffs und einer Deeskalation. Eines vorweg: Russland wäre zu einem Krieg fähig, aber ich glaube nicht, dass sich der Kreml jetzt dazu entscheiden wird. Russlands Plan A ist, seine Ziele am Verhandlungstisch mit dem Westen zu erreichen. Der Krieg dient dabei als Drohkulisse und politisches Druckmittel. Eine grossangelegte Invasion der Ukraine halte ich für unwahrscheinlich. Es könnte aber zu lokalen Eskalationen und zusätzlichen Besetzungen im Donbass kommen. «Krieg» hat viele Formen. Damit spielt Russland.
Niklas Masuhr ist Militär-Experte und forscht am Center for Security Studies mit dem Schwerpunkt Beziehungen zwischen der Vereinten Nationen und Russland.Bild: zvg
Benno Zogg ist politischer Analyst für Osteuropa am Center for Security Studies der ETH Zürich.Bild: zvg
Der Kreml sagt ja, die Nato nein: Hat Russland seine Truppen zurückgezogen?
Masuhr: Von einem Abzug sollte man meines Erachtens nicht sprechen. Einzelne Armee-Einheiten wurden von der Grenze in andere Zonen in vergleichbarer Nähe zur Ukraine verschoben, während der Aufmarsch in anderen Gebieten weiterging. Ob das bloss ein «Hütchenspiel», oder tatsächlich der Anfang grösserer Bewegungen zurück in die Kasernen ist, bleibt offen. Abgesehen von den Aussagen des russischen Verteidigungsministeriums haben wir nichts Verlässliches, das auf einen Abzug hindeutet
Zogg: Das ist schwierig zu beantworten. Am wichtigsten wäre, dass Russland die Truppen, die üblicherweise nicht im Umkreis der Ukraine stationiert sind, zurückzieht. Russland will mit der Botschaft über einen Abzug signalisieren, dass die Situation deeskaliert ist. Aber selbst wenn ein Rückzug stattfindet, könnte er nur temporär sein. Russland wird seine Fähigkeit, in der Ukraine weiterhin eingreifen zu können, beibehalten.
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«Wir haben nichts Verlässliches, das auf einen Abzug der russischen Truppen hindeutet.»
Niklas Masuhr, Militär-Experte
Bis heute ist nicht viel passiert und der Kreml spricht seit Wochen von einer reinen Hysterie des Westens. Hat er recht?
Masuhr: Ich halte das für unglaubwürdig. Der Kreml hat ähnliche Ansätze in der Vergangenheit verfolgt: Er fährt seine Armee als Drohkulisse auf und wenn er merkt, es ist unnötig oder nicht aufrechtzuerhalten, betitelt er das Ganze als Mobilisierungsmanöver. Dabei nutzt er die mediale Darstellung: Es soll so aussehen, als würde die eigentliche Kriegstreiberei aus dem Westen kommen.
Zogg: Russland behauptet bis heute, keine Konfliktpartei in der Ukraine zu sein und nur Militärmanöver im eigenen Land durchzuführen. Was dem schon grundsätzlich widerspricht, sind die Annexion der Krim und dass Russland die Separatisten in der Ostukraine unterstützt. Allerdings finde ich, dass US-Präsident Biden und westliche Medien tatsächlich übertrieben auf das Extremszenario einer grossflächigen Invasion fokussiert haben. Militärplanerinnen und -planer müssen dieses Szenario in Betracht ziehen, aber der Fokus darauf lässt Krieg als unausweichlich erscheinen.
«US-Präsident Biden und westliche Medien haben übertrieben auf das Extremszenario einer Invasion fokussiert.»
Benno Zogg, Politologe
Wenn entgegen der Prognosen Russland nicht einmarschieren und seine Truppen komplett abziehen wird: Was bedeutet das für die Glaubwürdigkeit des Westens?
Masuhr: Selbst wenn sich die russische Armee Ende Februar grossflächig zurückzieht und es mittelfristig zu einer Entspannung kommt: Ich glaube nicht, dass das die westliche Glaubwürdigkeit unterminiert. Es gab und gibt genug glaubwürdige Nachweise für die Gefahr eines Angriffs. Allerdings ist er kein fester Fakt. Moskaus Entscheidungen sind auch davon abhängig, inwieweit man seine Ziele bereits mit Drohungen glaubt erreichen zu können und wie kostspielig eine militärische Eskalation wäre. Die USA können immer noch begründen, dass die Leaks wie beispielsweise über den 16. Februar Russland abgeschreckt oder zumindest das russische Kalkül beeinflusst hätten.
Zogg: Dazu gibt es zwei mögliche Aspekte: Zum einen könnte der Westen und die USA als Sieger dastehen, indem sie die Bedrohung benannt und damit Russland von einer Eskalation abgehalten haben. Zum anderen könnte sich US-Präsident Biden zu sehr vorgebeugt haben: Auch wenn sich die Lage jetzt entspannen sollte, könnte in einem Jahr die gleiche Bedrohungslage wieder vorliegen. Stellt man Russland nur als böswillig dar und tut alle diplomatischen Bemühungen als Farce ab, erreicht man keine Kompromisse. Und die bräuchte es auf allen Seiten.
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Die beliebtesten Kommentare
Liebu
17.02.2022 18:41registriert Oktober 2020
Wie will man auch ein Szenario bewerten, das absolut unberechenbar ist, da es von einem der unberechenbarsten Menschen der Welt so angerichtet wurde. Die Pläne kennt wohl nur Putin selber, falls überhaupt.
Russland wäre finanziell ruiniert, wenn sie die Ukraine überfallen. Wirtschaftlich steht Russland im Moment sehr schlecht da. Mit zusätlichen Sanktionen würde sich auch die Bevölkerung Russland's und einige Oligarchen gegen Putin wenden. Dazu gibt es Doku's, z.B. Arte und andere. Jedoch könnte das Ganze trotzdem eskalieren.
Die Pläne kennt wohl nur Putin selber, falls überhaupt.