Niemand weiss, was im Kopf des russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgeht. Wenn es aber darum geht, die Bewegung von Truppen und Waffensystemen zu deuten und sensible Informationsquellen auszuwerten, dann ist auf niemanden mehr Verlass als auf die US-Geheimdienste. Die liessen vergangene Woche durchsickern, dass ein russischer Angriff auf die Ukraine «wahrscheinlich» sei und bereits heute Mittwoch losgehen könnte.
Woher genau sie das wissen, lassen die USA im Dunklen. Ihre Strategie, relevante Erkenntnisse über die russischen Aktivitäten sofort publik zu machen und Putins Handlungsoptionen damit einzuschränken, scheint aber aufzugehen: So haben die Geheimdienste den russischen Plänen einen Strich durch die Rechnung gemacht, mit einem gefälschten Video eines Angriffs ukrainischer Kräfte auf russische Bürger einen Grund für einen russischen Einmarsch zu liefern.
Russlands gestrige Ankündigung, einen Teil seiner Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen, liess den ukrainischen Aussenminister Dmytro Kuleba kalt. Man habe gelernt, nicht den russischen Worten, sondern nur den russischen Taten zu glauben, schrieb er auf Twitter. Tatsache ist: Laut übereinstimmenden Berichten diverser investigativer Gruppierungen befinden sich noch immer neue Truppenverbände und Waffensysteme auf dem Weg an die ukrainische Grenze.
Unter den anrollenden Waffensystemen sind mobile Raketenabschussrampen (sogenannte Iskander-Fahrzeuge) und Krasukha-4-Systeme, mit denen der Radar feindlicher Kampfjets im Umkreis von 300 Kilometern gestört werden kann. Diese Waffen machen es möglich, die Ukraine auch ohne einen einzigen einmarschierenden Soldaten anzugreifen. Den Aufwand, all dieses Material (inklusive Blutreserven für mögliche Kriegsverletzte) und all diese Leute aus ihren Kasernen in die Winterkälte hinauszuschicken, unternimmt kein Kriegsstratege nur zum Spass.
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Der Kremlchef hat mehrfach deutlich gemacht, dass er den Untergang der Sowjetunion als Katastrophe empfunden hat. Dass er den Einfluss Russlands auf die umliegenden Ländern, deren Souveränität er nur sehr begrenzt anerkennt, ausweiten will, ist kein Geheimnis. Einen leisen, friedlichen Abgang kann er sich weder vor dem heimischen Publikum leisten, das seit Wochen medial auf den Krieg gegen die Aggressoren hinter der ukrainischen Grenze eingestimmt wird, noch vor den mächtigen Verbündeten in Peking, mit denen er sich gemeinsam auf einen scharfen Kurs gegenüber dem Westen geeinigt hat.
Die Bedrohung der Ukraine durch den Aufmarsch russischer Soldaten ist zweifellos real. Es ist die grösste Truppenmobilisierung in Europa seit Jahrzehnten. Dennoch kommen die Sicherheitsexperten des Kiewer Center for Defense Strategies zum Schluss, dass die angesammelten Kräfte «für eine gross angelegte Operation, die darauf abzielt, die gesamte oder einen bedeutenden Teil der Ukraine zu erobern» nicht ausreichen. Würde Putin das vorhaben, müsste Russland Hunderttausende Soldaten und Reservisten auf den Einsatz vorbereiten. Das geschieht derzeit nicht.
Selbst wenn es zu keiner Grossinvasion des gesamten Landes kommen sollte, ist die Kriegsgefahr keineswegs vom Tisch. Die Besetzung einzelner Regionen oder gar der Hauptstadt Kiew wäre denkbar. Allerdings dürfte auch diese Rechnung kaum aufgehen. Im Falle eines Versuchs, die Grenze vom Norden her zu durchbrechen, «werden die russischen Truppen enorme Verluste erleiden», heisst es in der Analyse der Kiewer Sicherheitsexperten.
Kommt hinzu, dass die Kontrolle über eine Stadt mit drei Millionen Einwohnern «eine schwierige bis unrealistische Aufgabe» ist. Und selbst wenn das gelingen würde: Eine vom Kreml eingesetzte «Marionettenregierung» in Kiew würde weder von den Ukrainern noch international anerkannt. Auch massive Bombardierungen und Raketenangriffe, die einen Einmarsch wohl begleiten müssten, sind unwahrscheinlich. Dagegen sprechen die potenziellen zivilen Opfer. Will Putin die Kontrolle über die Ukraine erlangen, benötigt er die Unterstützung der russischsprachigen Bevölkerung im Land. Durch eine grosse Zahl getöteter Zivilisten dürfte er diese verlieren.
Dass die Kosten für Russland bei einem Angriff enorm hoch wären, hat sowohl mit der Reaktion des Westens, als auch mit Bereitschaft der Ukrainerinnen und Ukrainer zu tun. Hunderttausende Freiwillige sind entschlossen, ihr Land zu verteidigen. Und da es dem Kreml bislang nicht gelungen ist, die Einheit des Westens aufzubrechen, muss Putin mit internationaler Isolation und harten Sanktionen rechnen.
Dennoch gilt es, alarmiert zu bleiben. Denn gerade die Situation in der Ostukraine bleibt hochexplosiv. Versuche des Kreml, Provokationen in den besetzten Gebieten zu organisieren, bleiben plausibel. Solche Aktionen könnten dem Zweck dienen, den Eintritt russischer Truppen in das Territorium der Ukraine zu legitimieren. Denn eines ist klar: die aufgeführten Gründe gegen einen Krieg gelten nur solange der Westen und die Ukraine Putin keinen Spielraum lassen. Erkennt der Kreml eine Schwäche, wird er sie ausnutzen. (aargauerzeitung.ch)
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Man schickt sie auch nicht, einen Monat lang, in hellstem Tageslicht zum Picknick an die Grenze bevor man eine Invasion macht.