In der Nacht zum 144. Kriegstag bekräftigt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, sein Land werde sich von Russland besetztes Gebiet zurückholen. Zugleich beklagte der 44-Jährige einen gezielten «Informationsterror» von russischer Seite, gegen den sich seine Landsleute emotional wappnen müssten.
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Die ukrainischen Luftstreitkräfte berichten derweil von feindlichen Raketen, die aus grosser Entfernung aus der Region des Kaspischen Meeres heraus abgefeuert worden sein sollen. Kurz zuvor hatte das Verteidigungsministerium in Moskau bekannt gegeben, die Angriffe gegen das Nachbarland fast fünf Monate nach dem Einmarsch wieder ausweiten zu wollen.
«Es ist uns bereits gelungen, einen Teil des nach dem 24. Februar besetzten Territoriums zu befreien», sagte Selenskyj in der Nacht zum Sonntag in seiner täglichen Videoansprache. «Nach und nach werden wir auch andere Regionen unseres Landes befreien, die zurzeit besetzt sind.» Knapp fünf Monate nach Kriegsbeginn hatte die Ukraine zuletzt Gegenoffensiven im Süden gestartet. Bei der Rückeroberung besetzter Gebiete sollen auch westliche Waffen zum Einsatz kommen.
Selenskyj warf Russland darüber hinaus vor, im Krieg gegen sein Land gezielt Falschnachrichten als Waffe einzusetzen. Die Ukrainer bräuchten «eine Art emotionaler Souveränität», um dieses «Informationsspiel» nicht mitzuspielen, sagte er. Unwahrheiten etwa über angeblich vorbereitete Raketenangriffe verfolgten nur einen Zweck: «den Raketen- und Artillerie-Terror gegen unseren Staat durch Informationsterror zu ergänzen».
Russland hat die Ukraine laut Angaben aus Kiew von der Region des Kaspischen Meeres aus mit Raketen beschossen. Vier von insgesamt sechs Raketen seien am Samstag über den Gebieten Dnipro im Osten und Saporischschja im Süden abgefangen worden, teilten die ukrainischen Luftstreitkräfte mit. Zwei weitere seien auf landwirtschaftlich genutztem Gebiet in der zentralukrainischen Region Tscherkassy eingeschlagen. Der Schaden werde noch untersucht.
An das Kaspische Meer grenzen neben Russland unter anderem auch die Südkaukasus-Republik Aserbaidschan und das zentralasiatische Kasachstan. Nach ukrainischer Darstellung sollen bei dem Beschuss Langstreckenbomber vom Typ Tupolew Tu-95 zum Einsatz gekommen sein. Aus Moskau gab es zunächst keine Bestätigung.
Die prorussische Verwaltung einer Region im Südosten der Ukraine führt nach eigenen Angaben in grossem Umfang Getreide aus. «Mehr als 100 Waggons wurden bereits abgeschickt, ein weiterer Vertrag über 150 000 Tonnen wurde mit einem Getreidehändler abgeschlossen», teilte der Chef der russischen Militärverwaltung von Saporischschja, Jewgeni Balizki, mit. Die Ukraine wirft Russland bereits seit Monaten Getreidediebstahl vor.
Balizki machte keine Angaben dazu, wohin das Getreide gebracht werden soll. Per Bahn kann es aber nur nach Russland oder auf die von Russland seit 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim transportiert werden. Russland hat nach Beginn des Einmarsches in die Ukraine schnell den südlichen Teil der Region Saporischschja mit dem dort befindlichen Hafen Berdjansk am Asowschen Meer erobert.
Ohne eine gemeinsame Abschlusserklärung ist am Samstag in Indonesien das Treffen der G20-Finanzminister zu Ende gegangen. Die Vertreter der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer hätten sich bei ihrem zweitägigen Treffen auf der Insel Bali nicht einigen können, ob eine Stellungnahme zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine darin einfliessen solle, teilte die indonesische Finanzministerin Sri Mulyani Indrawati mit. Einig waren sich hingegen alle Teilnehmer, dass die weltweite Nahrungsmittelkrise angegangen werden müsse.
Der US-Flugzeugbauer Boeing rechnet trotz des Wegfalls Russlands als Absatzmarkt in den nächsten zehn Jahren mit einem grösseren Bedarf an neuen Jets als zuletzt. In der Zeit von 2022 bis 2031 dürften etwa 19 575 neue Passagier- und Frachtmaschinen den Weg zu ihren Kunden finden, teilte Boeing am Sonntagmorgen mit. Dies ist etwas mehr als 2021 für zehn Jahre vorhergesagt - obwohl Boeing da noch 710 Flugzeuge für russische Airlines eingerechnet hatte.
Wegen der westlichen Sanktionen gegen Russland infolge des Ukraine-Kriegs dürfen westliche Flugzeughersteller und Zulieferer keine Maschinen und Teile mehr nach Russland liefern. Zudem gibt Russland hunderte im Ausland geleaste Flugzeuge seit Monaten nicht an seine Eigentümer zurück, sodass der Markt für Airbus und Boeing aus heutiger Sicht praktisch wegfällt.
Nach der Ankündigung aus Moskau zu der geplanten Ausweitung der Angriffe wappnet sich die Ukraine für feindliche Offensiven vor allem im Osten. Auch internationale Militärexperten halten es für möglich, dass Russland schon in den nächsten Stunden wieder verstärkt Ziele im Donbass attackieren könnte. (sda/dpa)