Ein wütender Mob rief am Sonntag am Flughafen der russischen Kaukasusrepublik Dagestan «Allahu Akbar», schwenkte die palästinensische Flagge und stürmte auf das Rollfeld, um Jagd auf Passagiere zu machen, die aus Tel Aviv ankamen.
«Kindermörder sind in Dagestan nicht willkommen» war auf einem Transparent zu lesen.
Ohne Beweise beschuldigte der russische Präsident Wladimir Putin «ukrainische Agenten westlicher Geheimdienste», hinter den Ausschreitungen zu stecken. Dabei ist es nicht der erste antisemitische Übergriff im Vielvölkerstaat. Durch den Angriffskrieg auf die Ukraine ist Antisemitismus in Russland neu entflammt.
Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich in Russland nicht mehr sicher. 16'000 Menschen haben den Vielvölkerstaat im Jahr 2022 verlassen.
Ein Blick auf die Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa – und die jüngsten Ereignisse, welche jüdische Menschen zur Auswanderung aus Russland bewegen.
Die Geschichte von Antisemitismus in Osteuropa ist lang und füllt Bücher.
Viele osteuropäische Jüdinnen und Juden haben sich bereits vor der Gründung Israel auf dem heutigen israelischen Staatsgebiet niedergelassen. Denn in ihrer Heimat wurden sie ab den 1880er-Jahren und besonders um 1900 gejagt und teilweise massakriert.
Unseren detaillierten Rückblick beginnen wir im Jahr 1948 – Israels Gründungsjahr. Als Josef Stalin die damalige Sowjetunion mit eiserner Hand regierte. Seine antisemitischen Hetzkampagnen haben sich in das kollektive Gedächtnis Russlands eingegraben.
Zunächst erkannte die Sowjetunion unter Stalin das Existenzrecht Israels an. Die UdSSR hatte einerseits Interesse daran, einen Verbündeten im Nahen Osten zu gewinnen. Andererseits sah man im Rückzug Grossbritanniens aus dem Mandatsgebiet Palästina eine Schwächung des britischen Imperialismus.
Die Sowjets versorgten Israel mit Waffen und ermöglichten Menschen jüdischen Glaubens aus Osteuropa die Einwanderung – die Ausreise aus der UdSSR war Jüdinnen und Juden allerdings nicht erlaubt.
Doch dann folgte die antisemitische Kehrtwende.
Aufgrund des zunehmenden Bündnisses zwischen Israel und den USA inszenierte Stalin eine landesweite antijüdische Hetzkampagnen: Er bekämpfte die jüdische Religion, die hebräische Sprache und versetzte sowjetische Jüdinnen und Juden mit Verhaftungen, Hinrichtungen und Säuberungen in Todesangst.
Noch vor dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 kam es unter den von Michail Gorbatschow ins Leben gerufenen Reformen Glasnost und Perestroika (Offenheit und Umgestaltung) zur Zäsur. Er setzte dem staatlichen Antisemitismus sowie der Diskriminierung der jüdischen Menschen ein Ende. Gorbatschow liess den jüdischen Glauben wieder zu und hob das Ausreiseverbot auf. Jüdinnen und Juden siedelten in Massen nach Israel über.
Doch mit dem Untergang des Sowjetimperiums wurde der Antisemitismus nicht begraben. Mit dem Ukrainekrieg keimte die Judenfeindlichkeit wieder auf.
In Russland stehen Antisemitismus und die Holocaustleugnung gesetzlich unter Strafe. Alle Bürgerinnen und Bürger haben im Vielvölkerstaat das gleiche Recht – zumindest laut Gesetz.
Putin sieht sich selbst als Beschützer der Jüdinnen und Juden. Und dies nicht erst seit seiner «militärischen Spezialoperation», die er mit dem «Entnazifizieren» der Ukraine (notabene mit einem jüdischen Präsidenten, dessen Familienmitglieder von den Nationalsozialisten ermordet wurden) rechtfertigt. Bereits im Jahr 2016 rief er die jüdische Bevölkerung Europas aufgrund der wachsenden muslimischen Bevölkerung der EU auf, Zuflucht in Russland zu suchen.
Über Putin könne man viel Schlechtes sagen, aber er sei kein Antisemit, sagt einer, der ihn gut kennt: Natan Scharanski, prominenter Sowjet-Dissident und ehemaliger israelischer Vizepräsident gegenüber SRF. Sobald er aber in Bedrängnis komme, schrecke er nicht davor zurück, Antisemitismus als Instrument einzusetzen.
Zu Israels Premierminister Benjamin Netanyahu pflegt Putin lange gute Beziehungen, die mittlerweile aber auseinanderzubröckeln scheinen.
Ein Grund dafür ist Putins zögerliche Verurteilung des Hamas-Angriffs auf Israel. Berichten zufolge habe er sein Beileid erst eineinhalb Wochen später zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig warnte er vor einer Blockade des Gazastreifens und verglich das Vorgehen Israels mit der Nazi-Belagerung Leningrads, die mehr als eine Million Menschen das Leben kostete.
Ein weiterer Grund ist die antisemitische Rhetorik des Kremls. Im vergangenen Jahr behauptete Russlands Aussenminister Sergej Lawrow, Hitler habe wie der ukrainische Präsident jüdische Wurzeln gehabt. Ohnehin seien «die grössten Antisemiten oft selbst Juden».
Man bekommt schon seit Jahren eingetrichtert, dass es in der Ukraine Nazis gebe – auch jüdische Nazis, sagt Russland-Korrespondent Pavel Lokshin gegenüber SRF. Und weiter:
Schon vor Lawrows Äusserung häufte sich im Staatsfernsehen die antisemitische Rhetorik. Sergej Glasjew, der ehemalige Wirtschaftsberater Putins, verbreitete über die Propagandaorgane des Kreml, die mit dem russischen Geheimdienst in Verbindung stehen, die Desinformation, dass die russische Bevölkerung in der Ukraine durch Israelis ersetzt werde.
Doch nicht nur Propaganda schürt Hass.
Hart geht der Kreml gegen jüdische Kriegskritiker vor.
Als «Nationalverräter» gilt Alexej Wenediktow, Chefredaktor des ehemaligen Radiosenders «Echo Moskwy». Weil er den Krieg kritisierte, erteilte ihm der Kreml ein Sendeverbot. Vandalen schrieben daraufhin «Judenschwein» auf seine Haustür.
Pinchas Goldschmidt, gebürtiger Zürcher und ehemaliger Oberrabbiner von Moskau, weigerte sich, den Ukrainekrieg zu unterstützen – und wurde dafür öffentlich diffamiert. Vom russischen Justizministerium wurde Goldschmidt als «ausländischer Agent» bezichtigt. 30 Jahre lang fungierte er in Moskau als Oberrabbiner, ehe er sein Amt abgab und Russland verliess.
Goldschmidt rief aufgrund des zunehmenden Antisemitismus zum Verlassen des Landes auf. «Wir sehen ansteigenden Antisemitismus, während Russland zurückkehrt zu einer neuen Art von Sowjetunion», sagte er gegenüber «The Guardian».
16'000 Jüdinnen und Juden taten es ihm 2022 gleich.
Der Exodus veranlasste Moskau dazu, gegen die russische Niederlassung der Jewish Agency vorzugehen. Moskau drohte der Organisation, die Jüdinnen und Juden bei der Auswanderung unterstützt, mit der Schliessung der Büros.
Zu den bekannten Personen, die Russland verlassen haben, zählt auch Putin-Kritiker Leonid Gozman. Er habe sich darin geirrt, dass es in Russland nie mehr Judenfeindlichkeiten geben werde. «Was den staatlichen Antisemitismus anbelangt, so war er bis vor kurzem praktisch nicht existent. Und ich war so naiv zu glauben, dass es ihn nie geben würde», sagt er zu MRD.
Gozman wurde 2022 festgenommen, weil er seine israelische Staatsbürgerschaft nicht fristgerecht bei den russischen Behörden gemeldet hat. Im selben Jahr wurde er aufgrund eines neun Jahre alten Blog-Eintrags zu einer 15-tägigen Haft verurteilt. Nach seiner Freilassung gelang ihm die Ausreise nach Israel. Seiner Meinung nach habe sich Russland zu einem faschistischen Staat entwickelt.
2014 zeigte er dann der ganzen Welt, wie sehr man so etwas glauben darf. Danach meinte er, es gehe ihm nur um die Krim. Auch diese Aussage wurde spätestens 2022 widerlegt.
Dabei hiess es während der NS-Diktatur noch Jüdischer Bolschewismus, Zitat:
Nicht die Diktatur des Proletariats besteht heute in der Sowjetunion, sondern Diktatur des Judentums über die gesamte Bevölkerung