Wann ist Russland bereit, einen seiner über 5000 Atomsprengköpfe einzusetzen? Bislang ging man davon aus, dass dies nur in zwei Szenarien der Fall ist: als Vergeltungsschlag, falls Russland selbst mit Atomwaffen angegriffen wird. Oder zweitens, wenn durch einen konventionellen Angriff die Existenz des russischen Staates akut gefährdet ist. So beschrieb Präsident Wladimir Putin im vergangenen Jahr die russische Nuklear-Doktrin.
Jetzt hat die britische Zeitung «Financial Times» aber enthüllt, dass Putins Schwelle für den Einsatz von taktischen Atomwaffen viel tiefer liegt. Diese Atombomben sind kleiner als die strategischen Atomraketen mit grosser Reichweite und können von mobilen Trägern wie Kampfflugzeugen, U-Booten oder bodengestützten Kurz- und Mittelstrecken-Raketen abgeschossen werden. Gleichwohl können sie eine grosse Zerstörung entfalten. Mindestens 2000 solcher «mini Atombomben» soll Russland nach US-Schätzungen besitzen.
Gestützt auf Geheimdokumente aus den Jahren 2008 bis 2014 habe Russland konkrete Übungsszenarien und Handlungsprinzipien durchgespielt, welche den Einsatz von taktischen Atombomben bereits «in einem frühen Stadium eines Konfliktes» vorsehen, schreibt die FT.
Demnach würde Russland auf taktische Atombomben zurückgreifen, um eine Bodenoffensive auf seinem Territorium zu stoppen oder sobald ein Gegner zwanzig Prozent seines U-Boot-gestützten Raketenarsenals zerstört hätte. Daneben gibt es aber anscheinend noch eine ganze Reihe von wenig eingegrenzten Erwägungsgründen: Um die Eskalation eines Konfliktes zu stoppen, um das Aggressionspotenzial eines Staates einzuschränken oder einfach um zu verhindern, dass russische Truppen eine Schlacht verlieren.
Es sei das erste Mal, dass man solche Szenarien sehe, und sie zeigten, dass «die operationelle Hürde für den Atomwaffeneinsatz ziemlich tief liegt, wenn das gewünschte Resultat nicht mit konventionellen Mitteln erreicht werden kann», so Alexander Gabuev, Direktor der Carnegie Russland Denkfabrik in Berlin, zur FT.
Ausgangslage der in den Geheimdokumenten skizzierten Szenarien ist ein Angriff durch China an der russischen Ostgrenze. Sie zeigen, dass Russland trotz der Annäherung an China weiterhin grosses Misstrauen gegenüber seinem Nachbarn hegt. Laut Experten dürfte die Doktrin auch heute noch relevant sein, selbst wenn die Dokumente über zehn Jahre alt sind und Präsident Putin mit dem chinesischen Machthaber Xi Jinping öffentlich den Schulterschluss zelebriert.
Was die auf China gerichteten Planspiele für den Krieg in der Ukraine bedeuten, ist unklar. Putin gab sich seit der Invasion im Februar ambivalent. Einerseits bezeichnete er alle Szenarien für den Einsatz von Atombomben als unrealistisch. Andererseits brüstete er sich mit dem russischen Arsenal und sagte, Russland werde nicht zögern, alle seine Mittel anzuwenden.
Laut dem Nuklearwaffenexperten William Alberque verfolgen Russlands Militärs beim Einsatz kleinerer Atomwaffen das Motto «Eskalieren, um zu deeskalieren» oder anders formuliert: um seine Gegner «auszunüchtern». «Sie denken, am besten geht das über den Einsatz einer Atomwaffe, die sie ‹tief dosiert› nennen, und zu einem Zeitpunkt, an dem die Intensität des Kampfgeschehens noch tief ist», so Alberque zur FT. Der Konflikt würde dann beendet, bevor er richtig begonnen hätte.
Die Angst vor der russischen Atomdrohung prägt den Krieg in der Ukraine seit Beginn. Gerade Deutschland zögerte mit dem Verweis auf Russlands Eskalationspotenzial lange mit der Unterstützung Kiews, zuerst bei schweren Waffen wie Panzern und Artillerie. Aktuell zieht Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Lieferung des deutschen Marschflugkörpers Taurus eine rote Linie.
Laut dem Nuklearexperten Alberque kann das China-Szenario aber nicht eins zu eins auf die Ukraine übertragen werden. Während ein begrenzter Atomwaffeneinsatz gegen eine Atommacht wie China «ausnüchternd» wirken könnte, würde ein solcher in der Ukraine wohl erst recht zur Eskalation beitragen und zur direkten Intervention der USA oder Grossbritanniens führen, so der Wissenschafter. (aargauerzeitung.ch)