Kiew ist nicht Cherson, nicht Saporischschja. Die Hauptstadt der Ukraine liegt geografisch fern der Front – doch das bedeutet nicht, dass der Krieg hier Pause macht. Im Gegenteil: Während in den südöstlichen Städten die Bomben und Raketen im Stundentakt einschlagen und dem Luftalarm oft zuvorkommen, heulen in Kiew die Sirenen meist rechtzeitig vor einem Angriff.
Besonders lustig ist es trotzdem nicht, in Kiew zu leben. Gerade in diesen Tagen sind die Nächte besonders unruhig. In der Nacht auf Sonntag flog Russland seinen bisher massivsten Luftangriff auf die Ukraine – mit fast 300 Drohnen und rund 70 Raketen und Marschflugkörpern, mehr als je zuvor. Angenehm war das nicht. Und schon gar nicht in Obolon, dem nördlichen Stadtteil Kiews, wo ich lebe.
Ich bin 2018 nach Obolon gezogen, weil es als ruhiger, gutbürgerlicher Bezirk galt – ein idealer Ort zum Schlafen, zum Leben. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj lebte hier, bevor er 2019 gewählt wurde. Doch seit dem 24. Februar 2022 ist alles anders. Wäre der russische Vormarsch damals erfolgreich gewesen, hätte er wohl genau durch Obolon in die Hauptstadt geführt.
Dass es nicht so kam, ist glücklicherweise der ukrainischen Verteidigung zu verdanken. Dennoch gilt: Kiews Randbezirke wie Obolon sind aktuell besonders durch die russischen Luftangriffe gefährdet. Denn hier, an der Peripherie, greift die Flugabwehr frühzeitig ein – mit der Folge, dass Raketen und Drohnen oft direkt über unseren Köpfen abgeschossen werden.
Seit dem vergangenen Herbst vergeht kaum eine Nacht ohne Angriff. Die russische Drohnenproduktion hat deutlich zugelegt, und so wird Kiew fast jeden zweiten Abend attackiert – sofern nicht gerade eine von Moskau inszenierte «Waffenruhe» zum orthodoxen Osterfest oder zum «Tag des Sieges» verkündet wird. Die Frage, wie man damit umgeht, stellt sich jeden Tag neu.
In den Luftschutzkeller zu laufen, klingt vernünftig – ist aber nicht immer ratsam. Denn auf dem Weg dorthin ist das Risiko, von Trümmern getroffen zu werden, nicht kleiner als in der Wohnung selbst. Also bleibt man zu Hause – und verlagert den Schlafplatz in den Flur, möglichst weit weg von Fenstern. Es ist unwahrscheinlich, dass eine Drohne direkt in die Wohnung fliegt. Doch Fensterscheiben, die durch Druckwellen bersten, sind eine reale Gefahr. Das Matratzenlager im Flur ist längst zur Normalität geworden.
Explosionsgeräusche verlieren selbst mit der Zeit ihren Schrecken nicht. Man gewöhnt sich nie wirklich daran. Besonders schmerzhaft ist es, wenn etwas getroffen wird, das einem vertraut ist. Vor drei Wochen schlug eine Rakete in ein Einkaufszentrum ein – am Tag nach dem Geburtstag meiner Freundin.
Es war ein Ort, der mitentscheidend war für meinen Umzug nach Obolon. In der Nacht auf Samstag traf es ein weiteres Einkaufszentrum – dort wollten wir kommende Woche ins Kino gehen. Wenn es knallt, weiss man zunächst nicht, wo genau die russischen Bomben treffen. Doch am Morgen folgt dann oft die bittere Gewissheit, dass es wieder ein Ort war, an dem zuvor Leben stattfand.
An diesem Wochenende feierte Kiew den «Tag der Stadt». Früher war das letzte Maiwochenende ein grosses Volksfest. Heute ist es ein Akt des Widerstands. Die Kiewer lassen sich den Feiertag nicht nehmen – aber ausgelassene Stimmung sieht anders aus. Ein Glas Sekt vielleicht, doch Müdigkeit und Gereiztheit überwiegen.
Ob Russland ausgerechnet zum Feiertag den bislang grössten Drohnenangriff gegen die Hauptstadt der Ukraine flog, ist letztlich eine rhetorische Frage. Moskaus Vorliebe für symbolische Daten bei solchen Grossangriffen ist inzwischen sattsam bekannt. Doch dahinter steckt mehr als nur Provokation.
Denn auch die Ukraine erzielt Erfolge – etwa mit eigenen Drohnenangriffen auf russische Flughäfen bei Moskau. Die Unterbrechungen des Flugverkehrs dort sind ärgerlich für den Kreml. Doch die russische Antwort folgt prompt – in Form massiver Vergeltungsschläge. So wurden in der Nacht auf Sonntag nicht nur Drohnen, sondern auch Marschflugkörper und ballistische Raketen auf die Ukraine abgefeuert. Gegen Letztere braucht es effektive Flugabwehrsysteme – wie die «Patriot»-Luftabwehrraketen, geliefert von den USA.
Genau hier zeigt sich das Dilemma. Denn nach dem Auslaufen der US-Hilfspakete unter Präsident Joe Biden hängt die Zukunft der ukrainischen Luftverteidigung am seidenen Faden. Donald Trump verspricht, den Krieg schnell zu beenden – doch seine Druckversuche richten sich fast ausschliesslich gegen die Ukraine. Von klaren Verurteilungen russischer Angriffe hört man nichts mehr.
Wie sich die schwächere Ukraine ohne weitere US-Unterstützung verteidigen soll, während sie tagtäglich brutal angegriffen wird, wird von Trump ebenso offen gelassen. Und während in Washington über Diplomatie mit Putin diskutiert wird, detonieren in Obolon Raketen. Dabei muss Trumps diplomatischer Ansatz nicht per se schlecht sein. Aber der bisherige Verlauf der Gespräche hat bloss verdeutlicht, dass Russland auf seinen unrealistischen Maximalforderungen besteht.
Dieser Krieg ist nicht «sinnlos», wie es viele politische Floskeln nahelegen. Russland will sein verlorenes Grossreich zurück – die Ukraine muss ihre Unabhängigkeit und ihre Zukunft gegen diesen Imperialismus verteidigen. Wer Kiew in diesen Nächten erlebt, weiss: Ohne Unterstützung bleibt der Preis für diese Verteidigung hoch.
Und sollte diese Unterstützung versiegen, liegt die Verantwortung für das weitere Schicksal der Ukraine nicht nur in Moskau – sondern auch in Washington. Wenn in Oblon weiterhin Menschen sterben, trägt neben dem Hauptverantwortlichen Wladimir Putin auch Donald Trump eine Mitschuld. (aargauerzeitung.ch)