Daniil Frolkin ist 21 Jahre alt und war als russischer Soldat im Ukraine-Krieg im Einsatz. Er gehörte zur Selbstständigen 64. Garde-Mot-Schützenbrigade, die am 24. Februar – dem ersten Kriegstag – von Norden aus in Richtung Kiew vorstiess. Sein Bataillon gehörte zu der Einheit, die die Dörfer Andrijiwka und Makariw in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt besetzten.
Dem Zufall ist es zu verdanken, dass Frolkins Geschichte nun öffentlich wird. Mit einem gestohlenen Handy machte er Fotos von sich in Andrijiwka. Nach dem Abzug seiner Einheit fanden die ehemaligen Besitzer das Handy, inklusive Frolkins Fotos. Sie übergaben die Bilder an das unabhängige russische Investigativportal «Important Stories» (iStories), das den jungen Soldaten identifizierte und über das russische soziale Netzwerk «VKontakte» nach einem Interview fragte. Frolkin sagte zu – und erzählte seine Geschichte.
Der 21-Jährige erzählt, er sei der russischen Armee im Jahr 2020 beigetreten. Kampftraining habe er vor dem Beginn der russischen Invasion nicht erhalten. Im Gegenteil, seine Vorgesetzten hätten Fotos eines angeblichen Trainings fälschen lassen, um sie an das Oberkommando zu schicken. «Wir standen mit der Waffe am Schiessstand und haben Ziele anvisiert», erzählt Frolkin. «Sobald die Fotos geschossen waren, durften wir gehen». Auch andere Soldaten berichten, dass Trainingseinheiten nicht stattgefunden hätten, sondern nur kurze Fotoshootings für das Oberkommando angesetzt wurden.
Frolkins Einheit habe vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine und dem entsprechenden Marschbefehl so gut wie keine Vorwarnung bekommen, erzählt der Ex-Soldat. «Ich habe zwei Stunden zuvor von unserem Aufbruch in die Ukraine erfahren». Seine Vorgesetzten hätten seiner Einheit erzählt, sie würden für drei Tage in die Ukraine versetzt, um das Nachbarland einzuschüchtern. Dementsprechend hätten sie auch nur Verpflegung für drei Tage erhalten. Deshalb hätte Frolkins Einheit gar keine andere Möglichkeit gehabt, als Lebensmittel aus den besetzten Dörfern zu stehlen.
14/ The soldiers were given supplies only for the envisaged three-day campaign. When they found it was going to take much longer, they had to improvise – which meant looting from the Ukrainian villages they were occupying. pic.twitter.com/roeR0ImvVj— ChrisO (@ChrisO_wiki) August 25, 2022
Frolkins Einheit erreichte das Dorf Makariw am 24. Februar. Neben der fehlenden Verpflegung habe die Armee auch keine Wechselkleidung bereitgestellt. «Als ich meine Kleidung wechseln musste, hatte ich keine andere Wahl, als Kleidung aus zivilen Häusern zu nehmen», erzählt der Soldat. Die russische Uniform mit seinem Namen habe er in einem der Häuser liegen gelassen.
Am 1. März habe Frolkins Einheit in Makariw Schützengräben ausgehoben. Dabei seien sie von der ukrainischen Artillerie unter Beschuss genommen worden. «Wir rannten weg und sahen einen Soldaten, dem ein Bein fehlte», erzählt Frolkin. «Wir versuchten, ihn wegzutragen und sahen dabei noch einen zweiten Mann mit nur einem Bein. Da wurde mir klar, dass man in der Ukraine sehr schnell sterben kann.»
Nach drei Wochen in Makariw hatte Frolkins Einheit schwere Verluste erlitten, hielt aber noch die Stellung im Dorf bei Kiew. Um sich von den Strapazen der ständigen Artillerieschläge zu erholen, sei die Einheit um den 13. März herum nach Andrijiwka verlegt worden. Auch dort hätten die russischen Soldaten geplündert, erzählt Frolkin. Dieses Mal hätten die Diebstähle allerdings System gehabt: «Ein Kommandant hat Kühlschränke und Turnschuhe auf Laster geladen und sie über Belarus nach Russland geschickt». Der Autor Chris Owen berichtet, dass Kühlschränke an Witwen getöteter Soldaten geschickt wurden, wie in mehreren Fernsehberichten zu sehen sein.
Die Moral der Truppe habe sich immer weiter verschlechtert. Einige Soldaten hätten angefangen zu trinken, erzählt Frolkin. Die Betrunkenen seien unerträglich, aber auch ein leichtes Ziel für ukrainische Partisanen gewesen. «Ein Soldat war so betrunken, dass seine Kameraden ihn nicht mehr wecken konnten», sagt der 21-Jährige. «Am nächsten Morgen war er tot, er hatte eine Schusswunde».
Fünf lange Woche blieb Frolkins Einheit in Andrijiwka. Dabei töteten sie mindestens 13 Einwohner der kleinen Siedlung. Frolkin und seine Kameraden gingen brutal gegen die Einheimischen vor weil sie vermuteten, dass diese ihre Positionen an die ukrainische Armee weitergaben und so für heftige Verluste in den russischen Reihen sorgten. Frolkin selbst war an der Tötung von drei Menschen beteiligt.
10/ The three captured men were all killed on the orders of Guards Lieutenant Colonel Andrey Prokurat. "We brought them [to him] and he said: 'Take them outside the village, let them show [you] the houses and waste them.' pic.twitter.com/AGj4gsKMwb— ChrisO (@ChrisO_wiki) August 26, 2022
Anfang April wurde Frolkins Einheit aus der Region um Kiew abgezogen und über Belarus ins russische Belgorod gebracht. Dort sollten die Soldaten direkt wieder an die Front geschickt werden – viele Soldaten verweigerten den Befehl allerdings und reichten ihren Rücktritt aus der Armee ein. «Die Vorgesetzten waren ausser sich. Einer schlug einen Soldaten mit seinem Gewehrkolben, einem anderen hielt er seine Pistole an den Kopf und drohte damit, ihn zu erschiessen, wenn er nicht zurück an die Front gehen wollte».
Frolkin kämpfte noch mehrere Wochen in den Wäldern im ukrainisch-russischen Grenzgebiet weiter. Er wurde «irgendwann im Juni oder Juli abgezogen», als seine Einheit nahezu vollständig getötet worden war. Von ursprünglich 1'500 Mann in seiner Brigade wurden mindestens 400 in der Ukraine getötet. Als die verbleibenden Soldaten direkt weiter nach Cherson geschickt werden sollten, kam es laut Frolkin zur Revolte. Viele Soldaten seien aus der Kaserne geflohen und zurück in ihre Heimatstadt Chabarowsk geflogen, die tausende Kilometer von der Ukraine entfernt an der chinesischen Grenze liegt.
Auch Frolkin will nicht mehr kämpfen und hat die Armee inzwischen verlassen. Der Sinn des Krieges ist ihm bis heute nicht klar: «Ich weiss nicht, gegen wen wir kämpfen. Vielleicht kämpften wir gegen die ukrainische Armee. Aber das sind keine Nazis. Wie wir auch ist die Ukraine eine slawische Nation.»
Die Ukraine untersucht Frolkins Fall. Er wird beschuldigt, einen Zivilisten getötet und ein Auto gestohlen zu haben. Mittlerweile will er, dass der Krieg endet. «Ich will allen erzählen, was für Verbrechen wir in der Ukraine begangen haben und will erklären, was in unserem Land vorgeht. Für diese Informationen kann ich ins Gefängnis gehen.»
Abschliessend fällt der 21-Jährige ein vernichtendes Urteil über die Kommandeure der russischen Armee: «Die Befehlshaber scheissen auf die einfachen Soldaten», erzählt er. «Es wäre besser gewesen, wenn dieser Krieg nie begonnen hätte.»
Verwendete Quellen:
Wie kaputt muss eine Gesellschaft sein, dass die Witwen getöteter Soldaten gestohlene Külschränke als Kompensation für ihre Männer akzeptieren.
Russland ist unrettbar verloren!