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Betrunkene Kollegen: Russischer Soldat erzählt vom Krieg

epa10112976 A man looks at boots that belonged to Russian soldiers as he visits the 'Ukraine Crucifixion' exhibition at the National Museum of the History of Ukraine in the Second World War, ...
Stiefel russischer Soldaten bei einer Ausstellung in Kiew.Bild: keystone

Betrunkene Kollegen, unsichtbarer Feind: Russischer Soldat erzählt vom Krieg

Kriegsberichte von russischen Soldaten sind äusserst selten. Ein 21-Jähriger hat einem russischen Magazin von seinen Erfahrungen in der Ukraine erzählt.
28.08.2022, 06:5928.08.2022, 06:59
Tobias Esser / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Daniil Frolkin ist 21 Jahre alt und war als russischer Soldat im Ukraine-Krieg im Einsatz. Er gehörte zur Selbstständigen 64. Garde-Mot-Schützenbrigade, die am 24. Februar – dem ersten Kriegstag – von Norden aus in Richtung Kiew vorstiess. Sein Bataillon gehörte zu der Einheit, die die Dörfer Andrijiwka und Makariw in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt besetzten.

Dem Zufall ist es zu verdanken, dass Frolkins Geschichte nun öffentlich wird. Mit einem gestohlenen Handy machte er Fotos von sich in Andrijiwka. Nach dem Abzug seiner Einheit fanden die ehemaligen Besitzer das Handy, inklusive Frolkins Fotos. Sie übergaben die Bilder an das unabhängige russische Investigativportal «Important Stories» (iStories), das den jungen Soldaten identifizierte und über das russische soziale Netzwerk «VKontakte» nach einem Interview fragte. Frolkin sagte zu – und erzählte seine Geschichte.

Der 21-Jährige erzählt, er sei der russischen Armee im Jahr 2020 beigetreten. Kampftraining habe er vor dem Beginn der russischen Invasion nicht erhalten. Im Gegenteil, seine Vorgesetzten hätten Fotos eines angeblichen Trainings fälschen lassen, um sie an das Oberkommando zu schicken. «Wir standen mit der Waffe am Schiessstand und haben Ziele anvisiert», erzählt Frolkin. «Sobald die Fotos geschossen waren, durften wir gehen». Auch andere Soldaten berichten, dass Trainingseinheiten nicht stattgefunden hätten, sondern nur kurze Fotoshootings für das Oberkommando angesetzt wurden.

Informationen kamen zwei Stunden vor dem Marschbefehl

Frolkins Einheit habe vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine und dem entsprechenden Marschbefehl so gut wie keine Vorwarnung bekommen, erzählt der Ex-Soldat. «Ich habe zwei Stunden zuvor von unserem Aufbruch in die Ukraine erfahren». Seine Vorgesetzten hätten seiner Einheit erzählt, sie würden für drei Tage in die Ukraine versetzt, um das Nachbarland einzuschüchtern. Dementsprechend hätten sie auch nur Verpflegung für drei Tage erhalten. Deshalb hätte Frolkins Einheit gar keine andere Möglichkeit gehabt, als Lebensmittel aus den besetzten Dörfern zu stehlen.

Frolkins Einheit erreichte das Dorf Makariw am 24. Februar. Neben der fehlenden Verpflegung habe die Armee auch keine Wechselkleidung bereitgestellt. «Als ich meine Kleidung wechseln musste, hatte ich keine andere Wahl, als Kleidung aus zivilen Häusern zu nehmen», erzählt der Soldat. Die russische Uniform mit seinem Namen habe er in einem der Häuser liegen gelassen.

«Mir wurde klar, dass man hier sehr schnell sterben kann»

Am 1. März habe Frolkins Einheit in Makariw Schützengräben ausgehoben. Dabei seien sie von der ukrainischen Artillerie unter Beschuss genommen worden. «Wir rannten weg und sahen einen Soldaten, dem ein Bein fehlte», erzählt Frolkin. «Wir versuchten, ihn wegzutragen und sahen dabei noch einen zweiten Mann mit nur einem Bein. Da wurde mir klar, dass man in der Ukraine sehr schnell sterben kann.»

Nach drei Wochen in Makariw hatte Frolkins Einheit schwere Verluste erlitten, hielt aber noch die Stellung im Dorf bei Kiew. Um sich von den Strapazen der ständigen Artillerieschläge zu erholen, sei die Einheit um den 13. März herum nach Andrijiwka verlegt worden. Auch dort hätten die russischen Soldaten geplündert, erzählt Frolkin. Dieses Mal hätten die Diebstähle allerdings System gehabt: «Ein Kommandant hat Kühlschränke und Turnschuhe auf Laster geladen und sie über Belarus nach Russland geschickt». Der Autor Chris Owen berichtet, dass Kühlschränke an Witwen getöteter Soldaten geschickt wurden, wie in mehreren Fernsehberichten zu sehen sein.

Die Moral der Truppe habe sich immer weiter verschlechtert. Einige Soldaten hätten angefangen zu trinken, erzählt Frolkin. Die Betrunkenen seien unerträglich, aber auch ein leichtes Ziel für ukrainische Partisanen gewesen. «Ein Soldat war so betrunken, dass seine Kameraden ihn nicht mehr wecken konnten», sagt der 21-Jährige. «Am nächsten Morgen war er tot, er hatte eine Schusswunde».

Frolkins Einheit tötete mindestens 13 Zivilisten

Fünf lange Woche blieb Frolkins Einheit in Andrijiwka. Dabei töteten sie mindestens 13 Einwohner der kleinen Siedlung. Frolkin und seine Kameraden gingen brutal gegen die Einheimischen vor weil sie vermuteten, dass diese ihre Positionen an die ukrainische Armee weitergaben und so für heftige Verluste in den russischen Reihen sorgten. Frolkin selbst war an der Tötung von drei Menschen beteiligt.

Anfang April wurde Frolkins Einheit aus der Region um Kiew abgezogen und über Belarus ins russische Belgorod gebracht. Dort sollten die Soldaten direkt wieder an die Front geschickt werden – viele Soldaten verweigerten den Befehl allerdings und reichten ihren Rücktritt aus der Armee ein. «Die Vorgesetzten waren ausser sich. Einer schlug einen Soldaten mit seinem Gewehrkolben, einem anderen hielt er seine Pistole an den Kopf und drohte damit, ihn zu erschiessen, wenn er nicht zurück an die Front gehen wollte».

Frolkin kämpfte noch mehrere Wochen in den Wäldern im ukrainisch-russischen Grenzgebiet weiter. Er wurde «irgendwann im Juni oder Juli abgezogen», als seine Einheit nahezu vollständig getötet worden war. Von ursprünglich 1'500 Mann in seiner Brigade wurden mindestens 400 in der Ukraine getötet. Als die verbleibenden Soldaten direkt weiter nach Cherson geschickt werden sollten, kam es laut Frolkin zur Revolte. Viele Soldaten seien aus der Kaserne geflohen und zurück in ihre Heimatstadt Chabarowsk geflogen, die tausende Kilometer von der Ukraine entfernt an der chinesischen Grenze liegt.

Soldat hat die Armee verlassen

Auch Frolkin will nicht mehr kämpfen und hat die Armee inzwischen verlassen. Der Sinn des Krieges ist ihm bis heute nicht klar: «Ich weiss nicht, gegen wen wir kämpfen. Vielleicht kämpften wir gegen die ukrainische Armee. Aber das sind keine Nazis. Wie wir auch ist die Ukraine eine slawische Nation.»

Die Ukraine untersucht Frolkins Fall. Er wird beschuldigt, einen Zivilisten getötet und ein Auto gestohlen zu haben. Mittlerweile will er, dass der Krieg endet. «Ich will allen erzählen, was für Verbrechen wir in der Ukraine begangen haben und will erklären, was in unserem Land vorgeht. Für diese Informationen kann ich ins Gefängnis gehen.»

Abschliessend fällt der 21-Jährige ein vernichtendes Urteil über die Kommandeure der russischen Armee: «Die Befehlshaber scheissen auf die einfachen Soldaten», erzählt er. «Es wäre besser gewesen, wenn dieser Krieg nie begonnen hätte.»

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51 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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_kokolorix
28.08.2022 10:53registriert Januar 2015
Wie kaputt muss eine Gesellschaft sein, welche den Witwen getöter Soldaten gestohlene Kühlschränke anbietet.
Wie kaputt muss eine Gesellschaft sein, dass die Witwen getöteter Soldaten gestohlene Külschränke als Kompensation für ihre Männer akzeptieren.

Russland ist unrettbar verloren!
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der/die Waldpropaganda
28.08.2022 09:27registriert September 2018
Da werden junge Männer(&Frauen) ohne Grund/Ausbildung/Information an die Grenze geschickt. Hat Putin das Gefühl mit solch einer Taktik kann man gegen eine Armee gewinnen, welche seit der Krimannexion stark aufgerüstet wurde? Viele russische Soldaten tun mir leid, die waren total überfordert was dann widerum zu leid bei der ukrainischen Zivilbevölkerung führte. Am Ende kommen nur die einfachen Soldaten vor das Kreigsgericht, quasi das Baueropfer der Kommandeure welche wohl nicht ein einziges mal auf ukrainischem Gebiet Fuss fassten. Putin hat Russlands Nachwuchs nachhaltig zerstört.
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M.Ensch
28.08.2022 09:54registriert März 2020
Die hässliche Fratze von Putins Krieg. Menschenverachtung pur aus dem Kreml. Ungefiltert.
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