Es ist eine ungewöhnliche Freundschaft, besonders für zwei Staatschefs auf der grossen internationalen Bühne. Beim Libyen-Gipfel in Berlin Mitte Januar trafen erneut der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin aufeinander, einen Monat später ist nun eine türkische Delegation in Russland zu Gast. Diesmal geht es um den Bürgerkrieg in Syrien , seit Jahren unterstützen Russland und die Türkei in dem Konflikt verfeindete Seiten.
Politisch sind sich Putin und Erdogan aber bei vielen Themen einig, beide Staatschefs vertreten etwa einen sehr autoritären Führungsstil. Trotzdem haben die Türkei und Russland vor allem im Mittelmeerraum aktuell oft unterschiedliche Interessen. Die Kriege in Syrien und Libyen sind eine Kraftprobe im Kampf um die Vorherrschaft in dem Gebiet. Dabei standen sich russische und türkische Soldaten in Syrien teilweise direkt gegenüber.
Bislang konnte durch genaue Absprachen zwischen beiden Staaten die Gefahr der völligen Eskalation eines Konfliktes eingedämmt werden. Bei der Libyen-Konferenz gelang es den beiden Staatschefs sogar, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Trotz der unterschiedlichen Interessen in einigen Konfliktländern nähern sich Russland und die Türkei in den letzten Jahren immer weiter an. Besonders die Türkei macht sich durch Importe von russischem Gas und Waffensystemen noch abhängiger vom Kreml.
Moskau dagegen erhofft sich von den Beziehungen zu Ankara vor allem ein gutes Geschäft. Durch gemeinsame Projekte mit dem Nato-Mitglied Türkei kann der Kreml zusätzlich für Unruhe im westlichen Bündnis sorgen. Politische Konflikte mit dem Westen suchten beide Präsidenten in den letzten Jahren immer wieder. Für die Auseinandersetzungen hatten Erdogan und Putin oft innenpolitische Motive, doch beide eint auch die Enttäuschung von den westlichen Staaten. Erdogan nahm sich bei der Gestaltung des politischen Systems in der Türkei anscheinend vor allem Putins Russland zum Vorbild. Aber die ähnlichen strategischen Ziele führen nun zu den aktuellen Konflikten der Despoten am Mittelmeer.
Um diese Mechanismen besser nachvollziehen zu können, lohnt ein Überblick über die politischen Gemeinsamkeiten der Systeme Putin und Erdogan:
Der russische Präsident trainiert Karate, spielt Eishockey und reitet oberkörperfrei durch die russische Natur. Bilder davon sollen Putin bei der russischen Bevölkerung als besonders volksnah inszenieren. Natürlich hat er nach fast 20 Jahren an der Macht in Russland wenig mit dem Alltag einer durchschnittlichen russischen Familie zu tun. Allein Putins Vermögen soll sich Experten zufolge auf mehrere Milliarden belaufen. Aber das hält der Kreml streng unter Verschluss. Um Volksnähe zu demonstrieren, lebt der russische Präsident dagegen seinen Glauben auch öffentlich aus. Er hat seine eigene Kapelle, seit über 20 Jahren den gleichen persönlichen Beichtvater und nimmt beispielsweise an dem traditionellen Eisbaden der christlich-orthodoxen Kirche am Dreikönigstag teil, um sich von seinen Sünden zu reinigen.
Erdogan punktet seit Beginn seiner politischen Karriere in der türkischen Bevölkerung mit Volksnähe. Auch er hat es anfangs auf dem Rücken eines Pferdes versucht, doch bei einem Rodeo warf ihn das Tier vor laufender Kamera ab und trat ihn unglücklich in den Unterleib. Seitdem beschränkt sich der türkische Präsident auf die Dinge, die er kann: vor allem Fussball spielen. Er pflegt das Image des Politikers, der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und sich durchgeboxt hat. In seiner Jugend soll er ein guter Fussballer gewesen sein, und auch heute steht er noch regelmässig auf dem Rasen. Das kommt vor allem bei der fussballverrückten türkischen Bevölkerung gut an.
Neben der Volksnähe ist auch die Religiosität ein zentraler Anker seiner Macht. Erdogan ist gläubiger Muslim und zusammen mit seiner AK-Partei hat er es geschafft, gläubige Menschen wieder in das Zentrum der Gesellschaft zu holen, was zuvor in der streng laizistischen Türkei undenkbar war. Erdogan ging vor seiner Zeit als türkischer Ministerpräsident sogar für kurze Zeit ins Gefängnis, weil er öffentlich ein islamistisches Gedicht vorgelesen hatte. Auch deshalb hat er besonders bei sehr religiösen Menschen im Land sehr treue Wähler hinter sich.
Putin war Erdogan beim Machtantritt einen Schritt voraus, Russland hatte schon ein Präsidialsystem. Das Einzige, was Putin daran hinderte, die letzten 20 Jahre als Präsident zu regieren, war die russische Verfassung, die lediglich zwei aufeinander folgende Amtszeiten erlaubt. Doch Putin versuchte bislang nicht, die Verfassung zu ändern. Trotz seiner Machtfülle wollte er den Schein von Demokratie und Recht wahren. Deshalb sorgte er dafür, dass sein Freund, früherer Kollege in der Stadtverwaltung und ehemaliger Gazprom-Aufsichtsratschef Dmitri Medwedew, ab 2008 für vier Jahre Präsident wurde, bevor Putin in das Amt zurückkehrte. Putin gab die Zügel allerdings nie ganz aus der Hand, Medwedew fungierte eher als Marionette.
In den letzten 20 Jahren nutzte Putin den Rückhalt in der Bevölkerung, um eine grosse Machtfülle auf sich zu vereinigen. Er reduzierte den Einfluss der Oligarchen im Land, kritische Journalisten oder oppositionelle Regierungskritiker landeten teilweise im Gefängnis. Dabei profitierte er auch davon, dass die Opposition in Russland eher schwach und nicht geschlossen auftritt.
Auch Erdogan musste nach zwei Amtszeiten verfassungsgemäss im Jahr 2014 das Amt des türkischen Ministerpräsidenten, das damals mächtigste Amt im Staat, aufgeben. Danach konstruierte er ein auf sich zugeschnittenes Präsidialsystem nach dem Vorbild von Putin. Doch bis zum Verfassungsreferendum, das im Jahr 2017 von der Bevölkerung mit knapper Mehrheit bestätigt wurde, hat auch Erdogan mit Ahmet Davutoglu und Binali Yıldırım zwei Weggefährten als Ministerpräsident aufgestellt, die ihm im Hintergrund die Macht sicherten.
Auch der türkische Präsident hat sich im Machtzentrum mit treuen und hörigen Amtsträgern umgeben, teilweise sogar mit Familienmitgliedern. Seit dem Putschversuch 2016, den Erdogan knapp überlebte, macht er Jagd auf mutmassliche Anhänger der Gülen-Bewegung, die die türkische Regierung für den Putschversuch verantwortlich macht. Dabei richtet sich die Staatsgewalt Erdogans aber auch gegen die freien Medien und gegen Oppositionsparteien wie beispielsweise die prokurdische HDP.
Von Anfang an war es Putins politische Idee, den Nationalstolz vieler Russen nach dem Zerfall der Sowjetunion wiederherzustellen. Er übernahm Russland in einem wirtschaftlich desolaten und militärisch nicht mehr zeitgemässen Zustand. Während die wirtschaftlichen Probleme und die Abhängigkeit von dem Export von Rohstoffen anhalten, modernisierte Putin die russische Armee. Mit grossen Investitionen entwickelte Russland in jedem Teilgebiet seiner Streitkräfte neue Technologien. Ziel dabei ist nicht nur die Sicherung russischer Sicherheitsinteressen, sondern Russland exportiert diese Technologien zunehmend in alle Welt.
Die Sicherung russischer Interessen hatte in den letzten Jahren auch immer eine innenpolitische Funktion. Putin annektierte im Ukraine-Konflikt die Krim und sandteTruppen nach Syrien, um Machthaber Baschar al-Assad im Bürgerkrieg zu unterstützen. Die versuchte Botschaft an die eigene Bevölkerung: Russland ist immer noch Weltmacht und kann seine Interessen überall auf der Welt verteidigen. Dafür nimmt Putin auch Konflikte und Sanktionen der USA und der Europäischen Union in Kauf.
Die Türkei dagegen ist Nato-Mitglied, aber auch Erdogan nutzt Konflikte mit den westlichen Partnern, um sich bei der türkischen Bevölkerung als starker Vertreter ihrer Interessen zu generieren. Oft spielt Erdogan mit dem Bild, dass er der Verteidiger des türkischen Volkes gegen das muslimfeindliche Ausland ist. Dabei weiss er genau um die strategische Bedeutung der Türkei für die Nato und betreibt eine Art Pendeldiplomatie zwischen Russland und den Nato-Partnern. Neben den zahlreichen Flüchtlingen ist die Zuwendung zu Russland Erdogans Druckmittel in Verhandlungen mit den USA oder mit der EU. Der Kauf der S-400-Flugabwehr von Russland ist das jüngste Beispiel dafür, dass die türkische Regierung unter Erdogan versucht, zwischen den Fronten zu stehen und in dem Fall ein besseres Waffengeschäft für ihr Land herauszuschlagen.
Ähnlich wie Putin sucht Erdogan internationale Konflikte und Krieg nicht nur, um türkische Interessen zu sichern. Auch er spielt mit dem Erbe des Osmanischen Reiches, um eine Vormachtstellung der Türkei im Mittelmeerraum zu legitimieren. Aber Erdogan sucht ähnlich wie sein russischer Amtskollege diese Konflikte auch, um von innenpolitischen Problemen seiner Politik abzulenken.
Und bei diesen innenpolitischen Problemen liegt der zentrale Unterschied zwischen Russland unter Putin und der Türkei unter Erdogan. Russland hat ähnlich wie die Türkei grosse wirtschaftliche Probleme, aber das Land profitiert vom Export von Gas und Öl. Dies macht die ökonomische Struktur des Landes stabiler als die in der Türkei. Unter Erdogan konnte sein Land zwar wirtschaftlich rasant wachsen, aber dieses Wachstum wurde in grossem Umfang auf Pump und durch ausländische Devisen finanziert. Dies macht die türkische Wirtschaft brüchig und anfällig für äussere Angriffe, wie die Lira-Krise nach den durch die USA verhängten Strafmassnahmen im Jahr 2018 zeigte.
Auch aussenpolitisch muss Erdogan deutlich mehr Niederlagen hinnehmen. Er unterstützt die Muslimbrüder in Ägypten, die Rebellen im Kampf gegen Assad in Syrien und nun die international anerkannte Regierung in Libyen. Dadurch sichert er sich zwar einen Platz am Tisch, wenn es um die Nachkriegsordnungen geht, aber durchsetzen konnte sich eine von der Türkei unterstützte Seite in den Kriegen der letzten Jahre in der Mittelmeerregion jedoch nicht.
Putin und Russland handeln in diesen regionalen Konflikten schneller. Als die Türkei in Syrien eingriff, hatten Russland und Assad das Land fast schon in Gänze zurückerobert. Auch in Libyen kam Erdogans Hilfe spät, der Militäroffizier und Oppositionelle Chalifa Haftar hat mit russischer Unterstützung einen Grossteil des Landes eingenommen.
Wenn es um unterschiedliche Interessen in diesen Konflikten geht, hat Russland in den Verhandlungen mit der Türkei demnach meistens die stärkere Position. So werden die zahlreichen Konflikte im Mittelmeerraum für die Türkei zum Kraftakt, um den eigenen Interessen gerecht werden zu können. Und trotz seiner politischen Vorbildfunktion für Erdogan ist Putin dem türkischen Präsidenten vor allem eines: oft einen Schritt voraus.