Wladimir Putin hat angekündigt, für seine Sonderoperation in der Ukraine 300'000 Reservisten zu mobilisieren. Doch die potenziellen Soldaten rennen ihm nun in Scharen davon und verlassen das Land. Ein Teil von ihnen überquert die zweitlängste Grenze der Welt – nämlich diejenige zwischen Russland und Kasachstan.
Und in dem zentralasiatischen Land sind sie herzlich willkommen, obwohl Kasachstan als einer der engsten Verbündeten des russischen Bären gilt.
Vielleicht ist die Sicherheitsgarantie, die der kasachischen Präsidenten den Dissidenten gab, sogar eine eindeutige Geste an Putin. Denn auch der Norden Kasachstans ist Teil der Grossreichsfantasien des russischen Präsidenten.
Aber von vorn:
2014 gründete Russland, Belarus und Kasachstan die Eurasische Wirtschaftsunion, der mittlerweile auch Armenien und Kirgistan angehören.
Zum ersten Mal seit dem letzten Atemzug der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre formierten sich 2014 also ehemalige Sowjetstaaten zu einem flächenmässig riesigen Zusammenschluss.
5- Üçüncüsü; İran yönetimi, Avrasya Ekonomi Birliği (Eurasian Economic Union) ile birleşme noktasını kaybedecek pic.twitter.com/8krrRu9mWk
— Turgut Alp Boyraz (@turgutalpboyraz) September 24, 2022
Eine Kasachin sagte kurz nach der Gründung der Wirtschaftsunion gegenüber «Deutschlandfunk»:
Bis zur Unabhängigkeit Kasachstans im Jahr 1991 bildeten die ethnischen Russen die Mehrheit im Vielvölkerstaat Kasachstan. Heute stellen Russen mit rund 20 Prozent die grösste Minderheit im zentralasiatischen Land.
In den Nordprovinzen Kasachstans, entlang der Grenze zu Russland, sind Kasachen, die sich sprachlich und kulturell Russland zugehörig fühlen, sogar immer noch in der Mehrheit.
Kazakhstan has a large ethnic Russian population that is heavily concentrated in northern regions bordering Russia. The country’s pro-democracy uprising now threatens to critically undermine Russian influence - could Moscow respond with a Crimea-style land grab? pic.twitter.com/ORsesz3psn
— Business Ukraine mag (@Biz_Ukraine_Mag) January 5, 2022
Im selben Jahr annektierte Wladimir Putin die ukrainische Krim und zettelte im Osten der Ukraine einen Konflikt an. Die Begründung: Er will die dortige russische Bevölkerung befreien.
Eine russische Studentin fragte den russischen Präsidenten im August 2014 bei einem Symposium, ob es «ein ukrainisches Szenario» für den südlichen Nachbarn Kasachstan gebe, wo ja ebenfalls viele Russen lebten und gleichzeitig der kasachische Nationalismus Aufschwung bekäme? Und Putin sagte:
Viele Kasachen empfanden Putins Antwort als herablassend gegenüber dem modernen Kasachstan – keine eigene Staatlichkeit? – und viele hörten einen beunruhigenden Machtanspruch Russlands auf ihr Land aus den Worten des Präsidenten – Teil der grossen russischen Welt?
Im Kontext des damals gerade ausbrechenden Konfliktes in der Ostukraine war die Aussage Putins gegenüber der Studentin eine offene Bedrohung an Kasachstan, analysierte die «International Business Times» damals. Denn auch der Ukraine hatte der russische Präsident nur wenige Jahre zuvor die Staatlichkeit abgesprochen, als er gegenüber dem ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush gesagt hatte:
Darum richtete der damalige kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew postwendend eine deutliche Warnung an Russland:
Doch die Saat keimte nach Putins Aussage 2014 in den Köpfen der Russen weiter. Und so bezeichneten 2020 zwei Abgeordnete der russischen Staatsduma Kasachstan als eine «Pacht» Russlands. Daraufhin hängte ein russischer Aktivist ein Transparent an die Fassade der kasachischen Botschaft in Moskau:
Tatsache ist: Russische Nationalisten haben nie davor zurückgeschreckt, laut zu denken, dass die Grenze zwischen Russland und Kasachstan nicht definitiv ausdiskutiert sei. Sogar der kremlkritische russische Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn behauptete, Nordkasachstan sei rechtmässig russisch.
Kurz vor dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine im Februar 2022 brodelte es in Kasachstan. Kasachstan gilt zwar als wirtschaftlich stabil, da es über grosse Ölvorkommen verfügt. Aber in Kasachstan herrscht eine autoritäre Regierung, die die Presse- und Meinungsfreiheit mit Füssen tritt.
Ende 2021 hatte die kasachische Bevölkerung endgültig genug von der Regierung. Die Leute protestierten, zerstörten Infrastruktur und drängten die Regierung zum Rücktritt, nachdem die Benzin- und Flüssiggaspreise plötzlich in die Höhe geschossen und die Arbeitslosigkeit in die Höhe geschnellt waren.
Der aktuelle kasachische Präsident Qassym-Schomart Toqajew rief darum im Januar 2022 das von Russland angeführte Militärbündnis OVKS zu Hilfe, damit dieses ihn bei der Niederschlagung der regierungskritischen Proteste unterstütze.
Und so kam es, dass sich russische «Friedens»-Soldaten in Kasachstan befanden, während Russland die Ukraine militärisch überfiel. Trotzdem stellt sich Kasachstan im Ukraine-Krieg nur teilweise hinter Russland.
Zwar enthielt sich Kasachstan im Frühjahr bei der Abstimmung über zwei UN-Resolutionen, die russische Aggression in der Ukraine zu verurteilen. Auch den Sanktionen gegen Russland schloss sich Kasachstan nicht an, da man negative Auswirkungen auf die Entwicklung der eigenen Wirtschaft verhindern wolle, wie der kasachische Aussenminister am 5. April verkündete.
Gleichzeitig aber schickte das Land humanitäre Lieferungen in die Ukraine mit dem Slogan: «Ukraine, wir stehen dir bei.»
Im Juni zeigte Kasachstan dann Russland vollends die kalte Schulter: Während der kasachische Präsident gemeinsam mit Putin auf der Bühne des «St. Petersburg International Economic Forum» sass, erklärte er:
Und dann sagt er etwas, das die postsowjetische Partnerschaft zwischen Russland und Kasachstan erschütterte:
Am vergangenen Dienstag, 27. September bekräftigte der kasachische Regierungssprecher Aibek Smadiyarow diese Haltung und erklärte, dass Kasachstan die russischen Referenden in der Ostukraine nicht für gültig erachte:
Während der letzten Tage hat die real existierende Staatlichkeit von Kasachstan Putin ein Schnippchen geschlagen. Denn rund 100'000 Russen flüchteten vor der Teilmobilisierung über die Grenze nach Kasachstan.
Und Russen, die sich auf dem Territorium von Kasachstan befinden, kann Russland nicht einziehen. Denn Kasachstan ist ein souveräner Staat – aller Grossmachtfantasien seitens Russland zum Trotz.
Toqajew versprach den Dissidenten am vergangenen Dienstag:
Russen benötigen für die Einreise nach Kasachstan weder ein Visum noch einen Reisepass, sondern nur ihren russischen Personalausweis.
Während einige Kasachen nun Einreisebeschränkungen für Russen fordern, wie Reuters schreibt, haben andere Treffpunkte für ankommende Russen eingerichtet und Freiwilligennetzwerke aufgebaut, um den Flüchtigen bei der Suche nach Unterkünften zu helfen.
Am Donnerstag gaben verschiedene Nachrichtenagenturen bekannt, dass sich der russische Bär aufbäume an der Grenze zu Kasachstan: So soll ein mobiles militärisches Registrierungs- und Einberufungsbüro an einem Grenzübergang in die kasachische Region Astrachan installiert werden, um die Flüchtigen abzufangen, bevor sie den russischen Tatzen über die Grenze entwischen.
Vorläufig ein einziges mobiles Registrierungs- und Einberufungsbüro. An der zweitlängsten Grenze der Welt.
A mobile military registration and enlistment office will open on the border with #Kazakhstan in the #Astrakhan region. It will appear near the Karauzek checkpoint. pic.twitter.com/4WBdlKnPmk
— NEXTA (@nexta_tv) September 29, 2022
Denn Un-Mensch Putin ist ja gerade auf dem ‘Grossrussland-Trip’. Nur muss er, zum Glück für die Kasachen, Georgier, etc. gerade seinen (leider langsamen) Rückzug aus der Ukraine regeln.
Putin isoliert sich immer mehr, und Russland bröckelt dank seiner „Weitsicht“ vor sich hin.