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Interview

Flucht aus Russland: «Fühle mich schuldig, dass ich abgehauen bin»

Finnish border guards check the cars at the Vaalimaa border check point between Finland and Russia in Virolahti, Eastern Finland Wednesday, Sept. 28, 2022. The mass exodus of men
Finnische Grenzwächter kontrollieren russische Autos in Virolahti.Bild: keystone
Interview

Dieser junge Russe verliess fluchtartig seine Heimat: «Ich will nie mehr zurück»

Der 30-jährige Russe Sergey Nechaev (*) flüchtete diese Woche Hals über Kopf aus Russland. Aus Angst, in den Krieg ziehen zu müssen.
29.09.2022, 05:3530.09.2022, 18:39
Dennis Frasch
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Sergey, wo bist du gerade?
Sergey Nechaev:
Ich sitze in einem Hostel in Berlin.

Da bist du aber noch nicht so lange.
Nein, erst seit Dienstag. Vor ein paar Tagen führte ich noch ein mehr oder weniger normales Leben in St. Petersburg.

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Erzähl mir von deinen letzten Tagen.
Ich arbeitete in einem Skate- und Snowboardshop als Verkaufsberater. Seit der Teilmobilmachung letzte Woche befinde ich mich im Ausnahmezustand. Ich wusste, dass ich fliehen musste. Aber ich habe nicht sehr viel Geld und meine Familie wollte nicht mitkommen.

«Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie mich geschnappt hätten.»

Hast du sonst jemandem von deinen Plänen erzählt?
Ja, ich sprach mit meinem Chef. Er sagte mir, es sei meine Entscheidung. Er werde mich aber für den letzten Monat nicht bezahlen.​

Wieso nicht?
Ich war der letzte Verkäufer, der übrig war. Die sechs anderen haben das Land bereits verlassen. Mein Chef war also wütend. Er warf mir vor, ihn im Stich zu lassen.

Aber du hast dich trotzdem dazu entschieden, zu fliehen.
Ja. Innerhalb eines Tages habe ich meine Wohnung gekündigt, alle meine Sachen zu meinen Eltern gebracht und mir ein Ein-Weg-Busticket nach Finnland gekauft. Meine Eltern unterstützten mich dabei. Sie sagten mir, dass es keinen anderen Weg gebe.

Keinen anderen Weg?
Meine Familie stammt ursprünglich aus der Ukraine. Meine Eltern kamen in den 80er-Jahren nach St. Petersburg. Meine Grosseltern, meine Tante und mein Onkel leben nach wie vor in Kiew. Sie mussten zu Beginn des Krieges in die Karpaten flüchten, sind mittlerweile aber wieder zurück. Ich könnte jederzeit eingezogen werden. Ich kann nicht in die Ukraine gehen, um gegen meine Landsleute zu kämpfen.

Wie gross wäre das Risiko gewesen, tatsächlich eingezogen zu werden?
Sehr gross. Vor ein paar Tagen kamen sie in die Fabrik, in der mein Vater arbeitet. Sie gaben den Männern in meinem Alter vier Stunden Zeit, sich für die Busfahrt zur Kaserne bereitzumachen. Auf den Strassen St. Petersburgs laufen Männer in Militäruniform umher und machen das Gleiche. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie mich geschnappt hätten.

Also hast du am Montag den Bus bestiegen nach Finnland.
Ja. Ich war der einzige Mann an Bord. Ich hatte Glück, dass ich bereits ein Visum für Finnland hatte. Wir gingen dort in den letzten Jahren oft Snowboarden mit meiner Firma. Einige meiner Freunde wollten mitkommen, doch sie bekamen kein Visum. Sie warten immer noch.

Wie lange habt ihr an der Grenze gewartet?
Vier Stunden. Es war einfacher, als ich dachte. Aber ich hörte später von anderen Grenzübergängen, wo die Menschen teilweise 12 Stunden warten mussten. Die Grenzwächter haben mich diskussionslos durchgelassen, als ich ihnen mein Visum zeigte.

Wie ging es dann weiter?
Dank meines Schengen-Visums konnte ich bis nach Berlin weiterfahren. Am Dienstagabend bin ich dort angekommen.

Wieso Berlin?
Das haben mich viele Menschen gefragt. Ehrlich gesagt: Ich weiss es nicht. Ich war so gestresst, es war eine Kurzschlussreaktion. Ich habe ein paar Freunde, die auch hierhin geflüchtet sind. Sie sagten mir, dass man hier Asyl beantragen könne.

Wie reagieren die Deutschen auf dich?
Ich versuche, niemandem zu erzählen, dass ich Russe bin. Wenn ich meinen Pass doch mal zeigen muss, schäme ich mich zutiefst. Aber die Deutschen sind sehr freundlich zu mir.

Willst du jemals wieder zurück nach Russland?
Nein. Nie wieder. Höchstens für meine Eltern. Ich will sie da herausholen, sobald ich mich irgendwo niederlassen konnte. Ich fühle mich etwas schuldig, dass ich abgehauen bin. Dass ich es nicht geschafft habe, etwas zu ändern in meinem Land. Ich habe aufgegeben. Aber es war die richtige Entscheidung. Ich muss keine Angst mehr haben. Ich hatte grosses Glück.

Wie geht es jetzt weiter?
Ich weiss es nicht. Mein Plan war es, aus Russland herauszukommen. Das habe ich jetzt geschafft. Vielleicht kann ich einen Job finden. Ich werde versuchen, mir in Europa ein neues Leben aufzubauen. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir hier aufgenommen werden. Ich werde alles dafür tun, etwas zurückzugeben.

(*) Sergey heisst in Wirklichkeit anders. Wir haben seinen Namen zu seinem Schutz geändert.

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quelle: keystone / maxim shipenkov
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131 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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endell
29.09.2022 06:36registriert August 2018
Zutiefst menschlich und sehr nachvollziehbar. Ich glaube viele von uns hätten es ähnlich gemacht. Man kann aus der Ferne leicht sagen "er hätte sich früher auflehnen müssen / er hätte bleiben müssen um das Regime zu stürzen". Aber Hand aufs Herz: Wer von euch hätte dies unter den gegebenen Umständen (brutaler Polizeistaat, hohe Haftstrafen, Todesgefahr) wirklich gemacht? Ich wünsche ihm und seiner Familie alles Gute!
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Rethinking
29.09.2022 05:56registriert Oktober 2018
Der Chef scheint nicht all zu helle zu sein…

Werden die Angestellten eingezogen, kann er seinen Laden sowieso dicht machen…
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Gandalf-der-Blaue
29.09.2022 06:31registriert Januar 2014
Zwei Dinge machen hellhörig: Offensichtlich hat er erstens sehr wohl eine Ahnung, was in der Ukraine vor sich geht und zweitens hatte er schlicht Panik, eingezogen zu werden. So sehr, dass er alle Brücken hinter sich abbricht. Dass solche Männer nun zu hunderttausenden fliehen ist für Russland wirtschaftlich und politisch eine Katastrophe, denn all diese Männer fehlen in der eh schon krass zurückgeworfenen Wirtschaft zusätzlich. Zudem ist die innenpolitische Wirkung nicht zu unterschätzen.
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