Wie einst Hitler mit der V1-Rakete: Russland sucht sein Heil in billigen Terrorwaffen
Die Methode ist dieselbe, einzig die eingesetzten Kriegsmittel ändern sich: Mit den wellenartigen Angriffen vom Montag auf die ukrainische Hauptstadt Kiew hat Russland seine seit einer Woche andauernden Raketenangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine fortgesetzt.
Wie hoch die Verluste unter der Bevölkerung sind, ist noch unklar. Kiews Stadtbehörden sprachen am Montag von vier Toten und zahlreichen Verletzen. Wie schon vor Wochenfrist schienen die russischen Angriffe erneut auf die breitflächige Zerstörung ziviler Infrastruktur, und hier insbesondere des Energie- und Heizungsnetzes abzuzielen. So wurde am Montag laut ukrainischen Angaben eine Betriebszentrale für das Kiewer Heizungsnetz getroffen.
Präsidentensprecher Andrij Jermak nannte die Drohnenangriffe einen weiteren nutzlosen Verzweiflungsakt Russlands. Wenig später bekräftigte Präsident Wolodimir Selenski auf dem Nachrichtenkanal Telegram:
Russischer Rückgriff auf «Ramsch»-Drohnen
Vermutlich im August erstmals auf die Ukraine abgefeuert, häuften sich Mitte September die Berichte über den Einsatz iranischer Kamikaze-Drohnen vom Typ Shahed-136. Diese heissen so, weil sie sich wie die japanischen Flieger im Pazifikkrieg auf ihre Ziele stürzen und explodieren. Ein erster Schwerpunkt der Shahed-Angriffe lag Ende September an der Südfront im Raum von Odessa. Am Montag wurde nun mit Kiew auch die Hauptstadt ins Visier genommen.
Für internationale Militärbeobachter ist die Fortsetzung der Luftoffensive mit iranischen Drohnen und somit die Eskalation des Drohnenkriegs zuallererst ein Hinweis darauf, dass Moskaus Arsenal an den teuren und komplexen Mittelstrecken- und Langstreckenraketen zur Neige geht. Darum muss die russische Militärführung zunehmend auf die iranischen «Ramsch»-Drohnen zurückgreifen.
Doch selbst diese würden nicht gegen militärische Ziele eingesetzt, wie sich der deutsche Bundeswehr-Oberst Andreas Schneider wundert:
Für den Dozenten an der Bundeswehr-Führungsakademie in Hamburg ist darum die nicht-kriegsentscheidende Rolle des russischen Drohneneinsatzes vorhersehbar, wie er vergangenen Freitag im Bundeswehr-Youtube-Format «Nachgefragt» andeutete.
Das ist eine Einschätzung, wie sie etwa vom britischen Verteidigungsministerium geteilt wird: Aufgrund ihrer geringen Sprengwirkung und des mit 180 km/h ebenso langsamen wie lauten Propellerantriebs seien die Shahed-Drohnen kaum jene Langstreckenwaffe, die Russland in Wirklichkeit benötige und sich vielleicht von der iranischen Exportware erhofft hatte.
Bereits vergangene Woche stellten die britischen Militäranalysten in ihrem täglichen Rapport fest, dass einzeln fliegende Shaheds relativ einfach abzuschiessen seien. Laut früheren Angaben des ukrainischen Generalstabs können rund 60 Prozent der anfliegenden Drohnen in der Luft zerstört werden.
Am Montag seien allein in der Region Kiew 13 aus südlicher Richtung anfliegende Drohnen abgeschossen worden, bestätigte ein Sprecher der ukrainischen Luftwaffe.
Ein bunter Strauss an Abwehrmassnahmen
Harmlos sind die iranischen Kamikaze-Drohnen jedoch nicht, wie die alarmistischen Meldungen auf ukrainischer Seite vom Montag und Aufrufe nach mehr Flugabwehrunterstützung aus dem Ausland beweisen.
Wenn sie, wie es offenbar russische Taktik ist, in Schwärmen von bis zu sechs Flugkörpern aufs Mal eingesetzt werden, überfordern sie die ukrainische Flugabwehr und richten dort, wo sie niedergehen, schwere Schäden an.
Die Bilder der Zerstörung vom Montagmorgen aus Kiew legten hierzu trauriges Zeugnis ab. Die Gesamtzahl der abgefeuerten Shaheds zu Wochenbeginn blieb unbekannt.
Gemäss der ukrainischen Militärnachrichten-Plattform «Defense Express» wird deshalb aktuell über einen ganzen Strauss an Abwehrmassnahmen nachgedacht - konventionelle und futuristische.
Mögliche Abwehrmassnahmen gegen iranische Shahed-Kamikaze-Drohnen
- Maschinengewehre am Boden: Diese klassischen, seit dem Ersten Weltkrieg gebräuchlichen Flugabwehrwaffen haben einen gravierenden Nachteil. Selbst bei Treffern zerstören sie den Sprengkörper nicht, sondern bringen allenfalls den Flugkörper an ungeplanter Stelle zum Absturz und dort zur Explosion.
- Schultergestützte Flugabwehrraketen (Manpads): Von einzelnen Soldaten abfeuerbare Waffen wie Stinger und Strela führen zwar zu sicherer Zerstörung anfliegender Drohnen in der Luft, haben aber den Nachteil, der allen Flugabwehrraketen eigen ist: Eigentlich sind diese gegen feindliche Jets und Hubschrauber gedachten Waffen zu teuer und wertvoll, um sie an die billigen Shaheds zu verschwenden. Ausserdem können damit aus einem Shahed-Schwarm nur einzelne anfliegende Flugkörper vernichtet werden; und dies wegen fehlender Nachtsicht nur tagsüber.
- Mehrfach-Flugraketenwerfer: Zum Beispiel die Stinger-Weiterentwicklung Avenger kann die Zielsteuerung auf Shahed-Raketenschwärme elektronisch koordinieren und mehrere Raketen aufs Mal abfeuern. Aber was das mangelnde Kosten-Nutzen-Verhältnis angeht, gilt hier erst recht, was bereits auf die Manpads zutrifft: zu wertvoll und zu teuer.
- Flakpanzer: Der deutsche Gepard mit seinen beiden 35-Millimeter-Hochleistungskanonen wäre eigentlich die ideale Waffe, um Schwärme von Shahed-Drohnen vom Himmel zu holen. Doch die Ukrainer haben keine 20 Exemplare davon im Einsatz, die Munition und Ersatzrohre sind knapp, und die Gepards werden bevorzugt im Erdkampf gegen Bodenziele eingesetzt.
- Kampfflugzeuge: Bereits sollen ukrainische Piloten zahlreiche Shaheds abgeschossen haben. Doch die ukrainischen Kampfjets werden an anderer Stelle dringender gebraucht, etwa zur Luftraumsicherung und für die Bodenunterstützung. Ausserdem begeben sich die unersetzlichen Flieger bei jedem Start in Gefahr, von der russischen Flugabwehr abgeschossen zu werden.
- Störsender: Der alternative Ansatz zur Shahed-Bekämpfung ist es, deren eingebaute, handelsübliche GPS-Leitsysteme elektromagnetisch mit einem sogenannten «Jammer» zu stören und sie vom Kurs abzubringen. Der Nachteil hier: Es ist beinahe unmöglich, Tausende von Quadratkilometern mit GPS-Störsystemen zu neutralisieren.
Die Blicke richten sich nach Israel
«Defense Express» rät den eigenen Streitkräften, für einen möglichst flächendeckenden Schutz die Kombination all dieser Möglichkeiten zu aktivieren. Zahlreiche Hinweise der vergangenen Tage weisen exakt in diese Richtung.
So teilte vergangenen Donnerstag Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit, das Bündnis werde der Ukraine Hunderte Störsender zur Drohnenabwehr liefern. Laut ukrainischen Quellen setzen die Streitkräfte zunehmend Flakpanzer vom Typ ZSU-23 Shilka instand, im Kalten Krieg das sowjetische Pendant zum deutschen Gepard. Darüber hinaus werden 57-Millimeter-Flugabwehrkanonen vom Typ S-60 aus den Depots geholt, ebenfalls eine Oldtimerwaffe aus Sowjetzeiten.
In diesem Zusammenhang interessant sind die Meldungen aus Israel, dass man angesichts der Waffenexporte des Erzfeindes Iran nach Russland von der bisher weitgehend neutralen Haltung abrücken und sich stärker zu Gunsten der Ukraine engagieren möchte. So machte der britische «Guardian» Ende September den Besuch von Simona Halperin in Kiew publik, einer stellvertretenden Direktorin im israelischen Aussenministerium.
Hauptgesprächsthema sei die Drohenabwehr gewesen. In diesem Bereich verfügt Israel schon über jahrzehntelange Erfahrung und steht kurz vor der Einführung des revolutionären Laser-Abwehrschirms «Iron Beam». Allerdings, so gab der israelische Entwickler Rafael Advanced Defense Systems vor zehn Tagen bekannt, werde «Iron Beam» frühestens in zwei Jahren einsatzbereit und frontreif sein.
Erstaunliche Parallelen zum Zweiten Weltkrieg
All das in Rechnung gezogen, ergeben sich erstaunliche Parallelen zur Endphase des Zweiten Weltkriegs: Auch damals suchte der Aggressor sein Heil in Terrorangriffen auf die feindliche Zivilbevölkerung, um dem ungünstigen Verlauf auf den Schlachtfeldern eine möglicherweise dramatische Wendung zu geben.
Anstatt etwa die Invasions-Brückenköpfe in der Normandie zu bombardieren, richtete Adolf Hitler seine neuen V1-Raketen (V für «Vergeltungswaffe») ab Juni 1944 massenhaft auf den Grossraum London. Zunächst verbreiten die Vorläufer der heutigen Cruise-Missiles Angst und Schrecken unter den Alliierten.
Jedoch schon bald fanden die Briten eine einfache Methode heraus, die verhältnismässig langsam und laut fliegenden deutschen Flugkörper vom Himmel zu holen. Anstatt auf sie zu schiessen reichte es bereits, mit dem Flügel eines Jagdflugzeugs an der V1 zu nippen, um sie so aus der Flugbahn und gefahrlos über dem Kanal zum Absturz zu bringen. (aargauerzeitung.ch)
