Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Landsleute mit Blick auf fast ein halbes Jahr Kampf gegen die russische Invasion zum Zusammenhalt aufgerufen. «Für den Sieg der Ukraine müssen wir kämpfen, es gibt noch viel zu tun, wir müssen standhalten und noch viel ertragen, leider auch viel Schmerz», sagte Selenskyj in einer am Samstagabend verbreiteten Videobotschaft. In der kommenden Woche, am 24. August, feiert das Land seinen Unabhängigkeitstag.
>> aktuelle Entwicklungen in der Ukraine im Liveticker
Erinnert wird an dem Tag auch an ein halbes Jahr russischer Angriffskrieg, den Kremlchef Wladimir Putin am 24. Februar befohlen hatte. Der Sonntag ist der 179. Tag seit Beginn der Invasion.
Selenskyj warnte, dass Russland den Unabhängigkeitstag für besondere Brutalität nutzen könnte. «So ist unser Feind. Schon in jeder anderen Woche dieses halben Jahres hat Russland so etwas Ekelhaftes und Grausames ständig getan», sagte Selenskyj. Unter anderem verwies er auf den «russischen Terror» im Gebiet Charkiw und im Donbass, wo es täglich Raketen- und Artillerieangriffe gibt.
Der Staatschef sagte auch, dass er in Kiew nächste Woche Besuch von Partnern erwarte. «Der Krieg hat alles verändert für die Ukraine, für Europa und für die Welt.» Ziel Russlands sei es, das Land zu erniedrigen und Angst und Konflikt zu verbreiten. Deshalb dürfe sich niemand dem Druck beugen und Schwäche zeigen, sagte Selenskyj. «Deshalb halten wir zusammen, helfen einander, bauen das Zerstörte wieder auf und kämpfen für unsere Leute.»
Nach zahlreichen Berichten über abgeschossene Drohnen und Explosionen in Militärobjekten auf der von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim sagte Selenskyj, dass sich dort eine Rückeroberung anbahne. «In diesem Jahr liegt es in der Luft und ist zu spüren, dass die Okkupation nur vorübergehend ist, die Ukraine zurückkehrt.»
Russland hatte sich die Krim 2014 gegen internationalen Protest einverleibt. Am 23. August ist Selenskyj Gastgeber der zweiten internationalen Krim-Plattform, einer Konferenz, die die völkerrechtliche Zugehörigkeit der Halbinsel zur Ukraine untermauern soll. Per Video soll auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zugeschaltet werden.
Am Sitz der russischen Schwarzmeerflotte, in der Hafenstadt Sewastopol, war die Luftabwehr nach Behördenangaben auch am Samstagabend wieder aktiv. Am Morgen war am Führungsstab der Flotte den Angaben nach bereits eine ukrainische Drohne abgeschossen worden, deren brennende Teile im Dach des Gebäudes einschlugen. Die Krim-Regierung meldete auch Einsätze der Luftabwehr im Westen der Halbinsel und forderte die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren. Die Flugobjekte seien klein und könnten kaum schweren Schaden anrichten, die Wirkung sei eher psychologisch, hiess es.
Das von russischen Truppen besetzte Atomkraftwerk (AKW) Saporischschja wurde nach Angaben der Besatzungsbehörden erneut von ukrainischen Streitkräften mit Artillerie angegriffen. Kritische Objekte seien aber nicht getroffen worden, hiess es in einer am Samstag veröffentlichten Mitteilung der russischen Militärverwaltung in der Stadt Enerhodar, wo Europas grösstes Kernkraftwerk steht.
Die Nato-Munition sei vom gegenüberliegenden Ufer des Dnipro-Flusses abgefeuert worden und auf dem Gelände des AKW eingeschlagen - in unmittelbarer Nähe eines Verwaltungsgebäudes, hiess es. Vier Geschosse seien registriert worden. «Kritische Objekte der Anlage sind nicht beschädigt.»
Die Angaben waren von unabhängiger Seite nicht überprüfbar. Russland und die Ukraine werfen sich immer wieder gegenseitig vor, das Kernkraftwerk zu beschiessen und Provokationen zu planen. Der Besatzungsvertreter Wladimir Rogow warf der Ukraine «atomaren Terrorismus» vor. Es werde geprüft, ob es Verletzte gebe. Die Zahl der Mitarbeiter sei angesichts der Gefahr bereits reduziert worden. Das ukrainische Militär teilte am Abend mit, es werde weiter befürchtet, die russischen Besatzer könnten das AKW vom Stromnetz des Landes abklemmen, um es in ihr System einzubinden.
Das mit sechs Reaktoren und einer Nettoleistung von 5700 Megawatt grösste Atomkraftwerk Europas wurde von russischen Truppen Anfang März besetzt. Es ist für die Stromversorgung des Landes von strategischer Bedeutung. Ende Februar marschierte Russland in die Ukraine ein. Die Führung in Moskau und die Besatzungsbehörden in Saporischschja lehnen internationale Forderungen ab, das AKW wieder unter ukrainische Kontrolle zu geben. Gewarnt wird vor der Gefahr einer Atomkatastrophe. Im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl ereignete sich 1986 das grösste Atomunglück auf europäischen Boden.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und Vizekanzler Robert Habeck reisen am Sonntag gemeinsam nach Kanada. Bei den Gesprächen mit Ministerpräsident Justin Trudeau wird es auch um die politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung der von Russland angegriffenen Ukraine gehen und um den Umgang mit China. Hauptziel des Besuchs ist die Vertiefung der Zusammenarbeit beider Länder im Klima- und Energiebereich. Kanada ist Partner Deutschlands in der G7 wirtschaftsstarker Demokratien und in der Nato. (sda/dpa)