Für die ukrainischen Schulkinder, ihre Eltern und die Lehrpersonen in den besetzten Gebieten ist die Situation sehr schwierig. Es gelten spezielle Regeln. So verlangen die russischen Besatzungsbehörden etwa, dass ukrainische Lehrpersonen nur auf Russisch und nur nach russischem Lehrplan unterrichten. Ukrainischer Sprach-, Literatur- und Geschichtsunterricht haben keinen Platz.
Das zeigt ein neues Dokument der ukrainischen Regierung auf. Es stammt vom 26. August und liegt CH Media vor. Darin belegt die ukrainische Regierung detailliert, wie die Besatzungsbehörde die eroberten ukrainischen Gebiete russifiziert.
Sie versuche, diese Gebiete in ihren rechtlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und kommunikativen Raum einzubeziehen, heisst es im Dokument. Die Regierung spricht von einer «Politik der schleichenden Annexion», wie sie Russland schon 2014 bei der Besetzung der Krim angewandt habe.
Die neuen Bestimmungen im Schul- und Bildungsbereich sind keine Ausnahme. Die Besatzungsbehörde treibt die Russifizierung mit zahlreichen weiteren Massnahmen voran.
Google, Youtube, Twitter, Instagram oder Facebook sind in den besetzten Gebieten blockiert. Die Bewohner können nur über einen VPN-Dienst auf soziale Medien zugreifen. Russland hat die Kontrolle über die Internetkommunikation übernommen, genauso wie über die Fernseh- und Radiosender. Dort werden jetzt russische Sendungen ausgestrahlt.
Auch die ukrainischen Mobilfunkbetreiber wurden durch Betreiber ersetzt, die unter russischer Kontrolle stehen. So beschlagnahmten die Behörden in der Region Cherson die Kommunikationskanäle des ukrainischen Mobilfunkunternehmens «Kyivstar». Das russische Unternehmen «K-Telecom» benutzt sie nun. Damit werden Bürgerinnen und Bürger faktisch dazu gezwungen, russische SIM-Karten für ihr Handy zu benutzen.
Russland führe in den besetzten Gebieten Umsiedlungen und Zwangsdeportationen von Ukrainern durch, steht weiter im Dokument. Sie würden in abgelegene russische Gegenden verschoben, um dort die demografischen Probleme zu lösen - aber auch auf die Krim und nach Weissrussland.
«Jüngste Zahlen zeigen, dass mehr als 2.45 Millionen Ukrainer aus den südlichen und östlichen Regionen der Ukraine nach Russland und auf die vorübergehend besetzte Krim umgesiedelt wurden», steht im Dokument. Darunter etwa 387'000 Kinder. Bisher sollen nur gerade 16'000 Abgeschobene die Rückkehr geschafft haben.
Bewohner der Krim protestieren gegen den Krieg in der Ukraine - und auch in anderen besetzten Regionen gibt es Proteste. Die Behörden antworten mit zunehmenden Repressionen darauf. So ergänzte der russische Präsident Wladimir Putin das Strafgesetzbuch am 14. Juli 2022 mit einem Artikel «zu öffentlichen Aufrufen und Aktivitäten gegen die Sicherheit». Zudem gibt es gemäss dem Dokument «einen Trend zur Entführung von Aktivisten aus der vorübergehend besetzten Region Cherson». Sie würden auf die Krim gebracht.
Seit dem 11. Juli 2022 können ukrainische Bürgerinnen und Bürger in einem vereinfachten Verfahren einen russischen Pass erhalten. Zurzeit würden russische Pässe ausgestellt für die Menschen in den besetzten Gebieten, steht im Dokument. Angestellten, die dies nicht wollen, wird mit Entlassung gedroht - etwa im Gesundheitswesen, im Wohnungsbau, in den kommunalen Verwaltungen und in den Schulen.
Rentnerinnen und Rentner müssen damit rechnen, dass sie ohne russische Pässe keine Rente mehr erhalten. In verschiedenen Regionen eröffneten die Behörden Zentren zur Ausstellung russischer Pässe.
In der Region Cherson haben die russischen Behörden eine erste Filiale der staatlich unterstützten «Promsvyazbank» eröffnet. Sie verteilt offenbar einmalige Zahlungen in der Höhe von 10'000 Rubel (160 Franken) an fast alle. «Um die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Rubelwirtschaft zu fördern», wie es im Dokument heisst.
Die Bank kündigte an, bis zu 50 Filialen in den besetzten Gebieten zu eröffnen. Auch die «MRB-Bank» aus Südossetien, einer abtrünnigen georgischen Region, will auf dem besetzten ukrainischen Gebiet tätig werden.
Die Russen ersetzen in den besetzten Gebieten die Griwna schrittweise durch Rubel. Renten und andere Zahlungen an die Bewohner erfolgen in Rubel. Die Besatzungsbehörde verbietet zudem Geschäften, Griwna zu akzeptieren. Damit zwingt sie die Menschen indirekt, Griwna in Rubel zu tauschen.
Die russischen Invasoren sammeln auch persönliche Daten von ukrainische Bürgerinnen und Bürgern. So erhalten Rentner und sozial schwache Bevölkerungsgruppen wie alleinerziehende Mütter, kinderreiche Familien und Behinderte «Sozialhilfe» in der Höhe von 10'000 Rubel.
Im Gegenzug fordert die Verwaltung ihre persönlichen Daten und Unterschriften ein. Daten generieren die Behörden auch über den Verkauf von Handy-SIM-Karten. Mit diesen Daten wollten sich die Besatzungsbehörden einen positiven Ausgang der Referenden sichern, die in verschiedenen Regionen geplant sind, heisst es im Dokument.
Die Besatzungsbehörden bereiten in verschiedenen besetzten Regionen Referenden vor über den Beitritt zur Russischen Föderation - vor allem in den Regionen Donezk und Lugansk. Auch in der Region Cherson gibt es entsprechende Pläne, die aber inzwischen verschoben wurden. In diesen Regionen werden Gesetzesentwürfe für die Referenden ausgearbeitet und Wahlkommissionen gebildet.
Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen müssen ihre Arbeitsprozesse russifizieren. Zudem fordern die Besatzer, dass in Arbeitsverträgen die Auszahlung der Gehälter in Rubel geregelt ist.
Wer sich weigert zu unterschreiben, muss mit Entlassung rechnen. Trotzdem will offenbar vor allem in den Städten die Mehrheit des medizinischen Personals keine russischen Verträge unterschreiben und sucht sich neue Verdienstmöglichkeiten. Russland hat inzwischen damit begonnen, Ärzte aus Russland in die besetzten Gebiete zu verschieben.
«In dieser Dichte, in dieser massiven Konzentration, wie es in diesem Dokument zum Ausdruck kommt, habe ich noch nie von der Russifizierung gehört», sagt Experte Andreas Umland. Er ist Analytiker am Stockholmer Zentrum für Oststudien. Dennoch sei er «offen gestanden nicht sehr überrascht», betont er. «Ich denke, dass all das schon 2021 so geplant wurde - wenn nicht sogar schon früher. Da wird ganz offensichtlich ein Programm abgespielt, das seit längerer Zeit existiert.»
Umland hält es für «relativ wahrscheinlich» und «plausibel», dass das Dokument der Wahrheit entspricht, gerade vor dem Hintergrund, was 2014 auf der Krim und im Donetzbecken passiert sei. «Das ist inzwischen gut dokumentiert und erforscht.» Zudem seien schon zuvor immer wieder einzelne Vorfälle von Russifizierungen publik geworden.
Ein Fragezeichen setzt Umland hinter die 2.45 Millionen umgesiedelten Ukrainerinnen und Ukrainer. «Das scheint mir zu viel zu sein», sagt er. «Es kann aber auch sein, dass es so ist. Ich kann diese Zahlen nicht einschätzen.»
Umland vermutet, dass Putins Plan von Anfang an darin bestand, ein Neurussland (Novorossiya) zu schaffen nach dem Vorbild des «Gouvernement Neurussland» des Russischen Kaiserreichs im 18. Jahrhundert. Es handelte sich dabei um die Gebiete der südlichen und östlichen Ukraine - inklusive Krim. Neurussland wird seit den 1990er-Jahren von russischen Nationalisten wieder propagiert.
«Ich vermute, dass Saporischschja und Cherson in Volksrepubliken umgewandelt oder annektiert werden sollen», sagt Umland. Zusammen mit dem Donbass und der Krim solle womöglich ein neuer föderaler Bezirk geschaffen werden. Eben eine Art Neurussland. (bzbasel.ch)
All diejenigen, naiven Geister im Westen, welche Verhandlungen und Gebietsabtretungen fordern, «um Beendigung des Krieges willens», sei eines gesagt: Russland will nicht verhandeln, sondern (westwärts!) russifizieren.
Westeuropa darf daher nicht einknicken. Die Ukraine muss weiter gestärkt werden, gerade auch militärisch.