Dieser Russe sagte den Kriegsverlauf exakt voraus – jetzt warnt er seine Landsleute erneut
In der griechischen Mythologie gibt es die Figur der Kassandra. Sie hatte die Gabe, in die Zukunft zu blicken, doch niemand wollte ihr zuhören. Sie gilt deshalb als tragische Heldin, die das Unheil voraussah, aber niemals Gehör fand. Ungehörte Warnungen werden deshalb auch als «Kassandrarufe» bezeichnet.
Als moderne «Kassandra» dürfte sich momentan Michail Chodarjonok fühlen. Der renommierte russische Militär-Experte sagte in einem bemerkenswerten Aufsatz vom 3. Februar exakt voraus, was bei einem Angriffskrieg in der Ukraine passieren wird. Doch im Kreml wollte offenbar niemand auf ihn hören. Nachfolgend die wichtigsten Auszüge aus dem Artikel, der drei Wochen vor dem Krieg publiziert wurde.
Der Aufsatz
Chodarjonok, der auf eine lange Karriere in der russischen Armee zurückblicken kann, begann so:
Zunächst analysierte Chodarjonok die Behauptung vieler russischer Analysten, dass niemand die ukrainische Regierung verteidigen würde.
Politische Analysten in Russland würden behaupten, «dass ein mächtiger russischer Feuerschlag fast alle Überwachungs- und Kommunikationssysteme, Artillerie und Panzerverbände zerstören wird», so Chodarjonok weiter. Davon hielt der ehemalige Oberst wenig:
In der russischen Expertengemeinschaft werde behauptet, der Krieg werde extrem kurz sein, da Russland innert Kürze die vollständige Lufthoheit erlangen werde, so Chodarjonok.
Die Streitkräfte der Ukraine haben hingegen immer noch eine Art Kampfflugzeug. Sowie Mittel der Luftverteidigung.»
In russischen Expertenkreisen war vor dem Krieg die geläufige Meinung, dass sich die ukrainische Armee in einem beklagenswerten Zustand befindet. Chodarjonok hielt entschieden dagegen.
Natürlich sind die Streitkräfte der Ukraine heute den Streitkräften der Russischen Föderation in Bezug auf ihre Kampf- und Einsatzfähigkeiten deutlich unterlegen. Daran zweifelt niemand, weder im Osten noch im Westen.
Aber auch diese Armee darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. In diesem Zusammenhang muss man sich immer an das Testament von Alexander Suworow erinnern: ‹Verachte niemals deinen Feind, betrachte ihn nicht als dümmer und schwächer als dich.›
Nun zu der Behauptung, dass die westlichen Länder keinen einzigen Soldaten in den Tod für die Ukraine schicken werden. Es sollte beachtet werden, dass dies wahrscheinlich der Fall ist. Im Falle einer russischen Invasion schliesst dies jedoch keineswegs eine massive Unterstützung der Streitkräfte der Ukraine durch den kollektiven Westen mit einer Vielzahl von Waffen und militärischer Ausrüstung sowie Massenlieferungen aller Art von Material aus. [...]
Es besteht kein Zweifel, dass die Vereinigten Staaten und die Länder der Nordatlantischen Allianz eine Art Reinkarnation von Lend-Lease nach dem Vorbild des Zweiten Weltkriegs beginnen werden, daran besteht kein Zweifel. Ein Zuzug von Freiwilligen aus dem Westen, der sehr zahlreich sein kann, ist nicht ausgeschlossen.»
In der russischen Fachwelt werde behauptet, der Krieg werde einige wenige Minuten oder Stunden dauern, so Chodarjonok. Er selber ging von viel längeren Kampfhandlungen aus.
Experten sind überzeugt, dass die städtische Umgebung den Verteidigern hilft, die Bewegung der Angreifer verlangsamt, es ihnen ermöglicht, eine Rekordzahl von Kämpfern pro Flächeneinheit zu platzieren und den Rückstand bei Streitkräften und Technologien auszugleichen. Und in der Ukraine gibt es mehr als genug Grossstädte, auch solche mit einer Million Einwohnern.»
Aus den obengenannten Gründen kam Chodarjonok zu einem eindeutigen Fazit.
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Der Realitätscheck
Chodarjonok sollte in sämtlichen Punkten recht behalten. Die Russen werden nicht wie Befreier empfangen. Im Gegenteil: Die Ukrainer leisten erbitterten militärischen Widerstand. In den Ortschaften, die die Russen erobern konnten, geht die Bevölkerung aus Protest immer wieder auf die Strasse.
Auch ist es den Russen bis heute nicht gelungen, die komplette Lufthoheit herzustellen. Der Luftraum bleibt hart umkämpft. Russische Jets vermeiden Flüge über einen Grossteil der Ukraine, da sie deren Luftabwehr fürchten.
Die Prognosen zu den westlichen Waffenlieferungen, den freiwilligen Kämpfern und dem Lend-Lease-Gesetz sind ebenfalls eingetroffen. Und die Russen haben tatsächlich Mühe, ukrainische Grossstädte einzunehmen. Um die Hafenstadt Mariupol zu erobern, brauchten sie fast 90 Tage, da sich die Verteidiger in einem Stahlwerk verschanzen konnten. Versuche, Charkiw oder Kiew einzunehmen, scheiterten kläglich.
Der Fernsehauftritt
Da sich die russischen «Experten mit den Hassfantasien» durchsetzten und nicht auf die Warnung gehört wurde, findet sich Russland seit bald drei Monaten in einem blutigen Krieg wider. Und Chodarjonok? Den gibt es immer noch. Und er darf seine Landsleute weiter warnen. Sogar im russischen Staatsfernsehen.
Am Sonntag nahm er in der Sendung «60 Minuten» kein Blatt vor den Mund. Dort, wo normalerweise mit Atom-Schlägen gedroht wird und die ukrainischen Truppen schlecht geredet werden, sagte Chodarjonok: «Wir befinden uns in völliger geopolitischer Isolation und die ganze Welt ist gegen uns, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen.» Die Situation für Russland werde «immer schlechter».
Chodarjonok analysierte nicht nur die aktuelle Lage auf dem Schlachtfeld, sondern blickte auch in die Zukunft. Im Hinblick auf die Nato-Beitrittsversuche Schwedens und Finnlands warnte er, man solle das Säbelrasseln mit Raketen unterlassen.
Chodarjonoks Fernsehauftritt:
Bereits vor einer Woche trat Chodarjonok im Fernsehen auf. Er zweifelte an der Wirksamkeit einer möglichen Mobilmachung, da man auf die Schnelle keine neuen Panzer und Flugzeuge herstellen könne.
Wird Wladimir Putin Chodarjonok dieses Mal zuhören? Der Fakt, dass er seine Meinung offen im Fernsehen vortragen durfte, zeigt jedenfalls, dass es in Russland wenigstens ein bisschen Raum für Kritik gibt. Gut möglich ist aber auch, dass Chodarjonoks Warnungen erneut wie «Kassandrarufe» verhallen werden.
