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Russland

Ukraine: Tagebuch eines Fallschirmjägers lässt in den Krieg einblicken

Russischer Deserteur: «Wir haben die Leute zu Wilden gemacht»

Das Tagebuch eines Fallschirmjägers lässt tief in die Abgründe des russischen Angriffskrieges blicken. Die Eindrücke unterscheiden sich von den Erzählungen des Kreml.
19.08.2022, 09:1819.08.2022, 09:26
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Ein Artikel von
t-online

Vergangene Woche berichtete t-online über Pavel Filatiev. Der ehemalige russische Fallschirmjäger hat die Kriegsschrecken des russischen Überfalls schonungslos aufgeschrieben. Sein Kriegstagebuch ist ein Bericht über das Grauen: 141 Seiten Frontalltag. Es ist ebenso eine Abrechnung mit Russlands Angriffskrieg, wie mit seinem Militär selbst. Jetzt soll feststehen: Pavel Filatiev hat Russland verlassen.

Vor seiner Flucht gelang es dem britischen «Guardian» mit Filatiev zu sprechen. Mehrmals trafen sie sich in U-Bahnhöfen und abgelegenen Cafés. Dabei gab Filatiev neue Details bekannt. Das Blatt hat jetzt auch Teile des Frontberichts übersetzt und veröffentlicht.

FILE - A Russian military convoy is seen on the road toward the Zaporizhzhia Nuclear Power Station, in Enerhodar, Zaporizhzhia region, in territory under Russian military control, southeastern Ukraine ...
Wer in Russland über einen Krieg in der Ukraine spricht, macht sich strafbar.Bild: keystone

Ohne den Schritt ins Ausland wäre ihm sein Tagebuch wohl zum Verhängnis geworden. Denn wer in Russland bei den Kämpfen in der Ukraine von einem Krieg spricht, macht sich strafbar. Erst überlegte der ehemalige Soldat, sich direkt zu stellen. Menschenrechtsaktivisten ermutigten ihn dann doch noch, das Land zu verlassen. Angeblich soll er sich mittlerweile in den USA aufhalten.

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Weitere Details: Verwundung, Frustration, Unmut

Bei den Treffen hat Filatiev den Journalisten neue Details über seine Zeit an der Front erzählt. Er habe zunächst Probleme gehabt zu verstehen, warum man überhaupt in den Krieg zog: «Es hat Wochen gebraucht, bis ich verstanden habe, dass es keinen Krieg auf russischem Boden gab und dass wir die Ukraine einfach überfallen haben.» Die Kommandeure hätten sich nicht um ihre Untergebenen gekümmert. Männer, die sich für Pläne aufopferten, die sie selbst nicht einmal richtig kannten: «Sie haben die Leute zu Wilden gemacht», schreibt Filatiev in seinem Tagebuch.

Filatievs Einheit sei auch einen Monat bei Mykolajiw eingesetzt worden. Dort habe man sich eingegraben – unter ständigem Artilleriefeuer der Ukrainer. Durch einen nahen Granateneinschlag soll er am Auge verletzt worden sein.

Gräueltaten habe er selbst keine erlebt. Doch er berichtete von einer Kultur der Wut und der Frustration in der Armee. In seinen Tagebüchern heisst es: «Die meisten Menschen in der Armee sind unzufrieden mit dem, was dort passiert, sie sind unzufrieden mit der Regierung und ihren Befehlshabern, sie sind unzufrieden mit Putin und seiner Politik, sie sind unzufrieden mit dem Verteidigungsminister, der selbst nie in der Armee gedient hat.»

«Guardian» liess sich Wesenskern der Erzählung dokumentieren

Wie viele Berichte aus dem Kriegsgebiet lassen sich auch die Angaben Filatiev schwerlich verifizieren. Der Guardian liess sich daher wesentliche Elemente der Erzählungen durch Dokumente und Fotografien belegen.

FILE - A Russian soldier speaks to foreign journalists in front of the ruined Metallurgical Combine Azovstal, in Mariupol, on the territory which is under the Government of the Donetsk People's R ...
Es gibt nur wenige Berichte von russischen Soldaten über den Krieg. Bild: keystone

Das Tagebuch von Pavlo Filatiev ist einer der wenigen Berichte von Soldaten, die offen mit ihren Erlebnissen im Ukraine-Krieg umgehen. «Wenn nur die Hälfte davon stimmt, kann man mit Fug und Recht sagen, dass diese Armee eine Katastrophe ist», twitterte dazu der deutsche Militärexperte Carlo Masala.

Filatiev berichtete von Plünderungen in Cherson

Bei einem Einsatz des Soldaten in Cherson soll es zu Plünderungen gekommen sein: «Wie Wilde haben wir dort alles gegessen: Haferflocken, Brei, Marmelade, Honig, Kaffee. Alles war uns egal, man hatte uns schon bis an die Grenze getrieben.» Er selbst habe sich eine Mütze gestohlen, zu kalt war die Sturmhaube, die er bis dahin besessen hatte. Eigentlich wusste er, dass sich das Plündern nicht gehörte: «Ich ekelte mich vor all den Plünderungen, trotz meines hektischen Zustandes.»

Das Tagebuch ist auch deshalb so brisant, weil der russische Soldat offen der kremltreuen Propaganda in seiner Heimat widerspricht. «Es mag nichts ändern, aber ich weigere mich, an diesem Wahnsinn teilzunehmen. Ethisch gesehen wäre es einfacher, wenn die Ukraine uns angreifen würde, aber die Wahrheit ist, dass wir in die Ukraine eingefallen sind und die Ukrainer uns nicht eingeladen haben», schreibt Fliatiev. (t-online,ld )

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26 Kommentare
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Kong
19.08.2022 09:43registriert Juli 2017
Ein Soldat der zur Verteidigung seines Heimatlandes 'erzogen' wurde, verabscheut einen sinnlosen Angriffskrieg. Sehr mutig von ihm in seinem propagandaversuchten Umfeld sich so zu outen. Und macht Hoffnung, dass eine Gegenbewegung entsteht, die in Zukunft die Kraft hat ihren Machtapparat einzubremsen. Für uns freie Westler wohl schwer nachvollziehbar wie die Doktrin dort von klein auf impft. Und wie Armut und Perspektivlosigkeit wenig Raum für Entwicklung bietet. Das zu ändern, dauert noch Generationen. Das soll keine Handlung entschuldigen. Als Opfer des eigenen Handelns sind sie Verlierer.
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Qualmkopf
19.08.2022 09:52registriert Juni 2022
Der Joshua Key Russlands, mehr solche Menschen braucht es in den Angriffsländern dieser Welt.
Hoffentlich ermutigt dies weitere russische Soldaten es ihm gleichzutun.
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M.Ensch
19.08.2022 10:40registriert März 2020
Kriegstreiber, das heisst die befehlenden Hierarchiestufen, sehen in den Untergebenen keine Menschen, sondern nur fleischliches Kriegsmaterial auf der Schlachtbank. So funktioniert primitiver Drill von oben. All diese dekorierten primitiven Kriegshetzer inkl. Putin und Konsorten gehören weggesperrt.
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