Die wogenden Weizenfelder der Ukraine sind das Symbol des Landes. Nach populärer Interpretation zeigen die Farben der ukrainischen Nationalflagge das typische Landschaftsbild: Ein gelbes, reifes Kornfeld, über dem der blaue Himmel strahlt.
Heutzutage ist die Ukraine nicht bloss die Kornkammer Europas, denn besonders Entwicklungsländer sind auf die schweren Ähren aus der Ukraine angewiesen: 400 Millionen Menschen ernährt das UN-Welternährungsprogramm (WFP) normalerweise mit Getreide, das von ukrainischen Bauern gepflanzt und geerntet wurde. Dazu verliessen letztes Jahr etwa 800'000 Tonnen Getreide das Land in Richtung restliche Welt.
Dieses Jahr war aber alles anders. Die ukrainischen Häfen wurden bis vor zwei Wochen von der russischen Armee blockiert. Vielen Entwicklungsländern drohte eine Hungerkrise.
Nun sind erste Exporte wieder möglich.
Zeit für eine Übersicht.
Aufgrund des laufenden Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine waren die Schwarzmeerhäfen, von denen aus das ukrainische Getreide verteilt wird, seit dem 24. Februar geschlossen.
Die Folgen dieser Blockade waren dramatisch: Getreide fehlte weltweit, der Preisindex für Nahrungsmittel schoss im Mai weltweit um 80 Prozent in die Höhe im Vergleich zu vor zwei Jahren, wie die Weltbank schätzt. Und immer mehr Länder drohten in eine akute Hungersnot zu rutschen.
Im Mai sagte Jakob Kern vom Uno-Welternährungsprogramm gegenüber der «WOZ»: «Das Problem ist nicht, dass es keine Lebensmittel in der Ukraine gibt, sondern dass die Menschen keinen Zugang haben, physisch oder finanziell.»
Im Jahr 2022 gingen bis zu 828 Millionen Menschen jede Nacht hungrig zu Bett, 50 Millionen Menschen in 45 Ländern stünden am Rande einer Hungersnot, schreibt das WFP.
Neben den Hunger-Hotspots Äthiopien, Nigeria, Jemen und dem Südsudan listete das WFP ab Juni 2022 auch Afghanistan und Somalia als Länder «höchster Alarmstufe». Weitere 20 Länder sind sogenannte «countries of very high concern», wie Denise Brown, die Resident Coordinator der UNO in der Ukraine, bei einer Pressekonferenz sagte.
Im Bericht wird für diese aktuelle Entwicklung der Klimawandel, die unstabile wirtschaftliche Lage nach der Covid-Pandemie sowie der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen unsicheren Getreidelieferungen genannt:
Am 22. Juli haben die Ukraine und Russland ein Abkommen unterzeichnet, um endlich Zugang zu den gebunkerten Lebensmitteln in der Ukraine zu ermöglichen. Dadurch sollte der Export von blockiertem Getreide aus den ukrainischen Häfen Odessa, Tschernomorsk und Juschny am Schwarzen Meer garantiert werden.
Den Schiffen wird im Abkommen eine sichere Fahrt durch die Meerenge Bosporus vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer versprochen. Die Exporte aus der Ukraine werden von einem Kontrollzentrum in Istanbul überwacht und kontrolliert – von Vertretern Russlands, der Ukraine, der Vereinten Nationen und der Türkei. Vermittelt wurde das Abkommen von der Türkei und der UNO.
Als «ein Leuchtfeuer der Hoffnung» bezeichnete UN-Generalsekretär António Guterres das Abkommen. Aber das Feuer wird nur für kurze Zeit lodern, denn das Abkommen ist nur 120 Tage gültig. Ziel ist es, während dieser vier Monate etwa 20 Millionen Tonnen Getreide aus drei ukrainischen Seehäfen zu transportieren.
Obwohl die Zeit drängt, zögerten grosse Schifffahrtsgesellschaften zunächst, den Getreideexport aufzunehmen, da rund um die Häfen Minen gelegt wurden. Michelle Wiese Bockmann, Schifffahrts- und Rohstoffanalystin bei «Lloyd's List», einer weltweit führende Zeitung in der Marineindustrie, sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press (AP):
Auf welch wackeligen Füssen das Abkommen steht, bewies die russische Armee bereits einen Tag nach Unterzeichnung, als der Hafen von Odessa mit Raketen beschossen wurde.
Am 1. August hat ein Schiff mit Mais den Hafen von Odessa verlassen – das erste seit Beginn des Angriffskrieges. Doch die Razoni erlebt gerade eine Odyssee (mehr dazu weiter unten). Am vergangenen Samstag hatten bereits 16 Schiffe mit insgesamt 450'000 Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse die ukrainischen Häfen verlassen, wie Reuters schreibt.
Während die Ladung der ersten Schiffe jeweils einen kommerziellen Zweck hat, wurde am 14. August das erste Schiff beladen, dessen Ladung ein humanitäres Ziel hat: die Brave Commander. Das Schiff fährt unter libanesischer Flagge und ist vom WFP gechartert.
The first humanitarian wheat shipment since the Russian blockade ended is being loaded at the Yuzhny port in southern Ukraine. The Brave Commander will take 23,000 tonnes of wheat to Ethiopia on behalf of the UN pic.twitter.com/aIrdCV3Yh7
— TRT World (@trtworld) August 14, 2022
«Nach Äthiopien werden 23'000 Tonnen Weizen geliefert werden», sagte der ukrainische Infrastrukturminister, Oleksandr Kubrakow, im Schwarzmeerhafen Juschny, während er die Beladung des Schiffes überwachte. Und er fügte hinzu:
Nach Angaben des ukrainischen Infrastrukturministeriums wird das Schiff nach Dschibuti fahren, von wo aus das Getreide dann nach Äthiopien weitertransportiert wird. Wann die Brave Commander in Dschibuti erwartet wird, wurde nicht kommuniziert.
Marianne Ward, stellvertretende WFP-Länderdirektorin in der Ukraine, sagte gegenüber Journalisten:
Am Dienstagvormittag hat die Brave Commander den Hafen von Juschny verlassen und tuckert nun durch den Bosporus – an Bord 23'000 Tonnen Getreide, die dazu beitragen sollen, dass wenigstens ein paar der 828 Millionen Menschen nicht mehr hungrig zu Bett gehen müssen.
Zusammen mit der Brave Commander liefen nach Angaben des Koordinationszentrums in Istanbul vier weitere Transportschiffe beladen mit Weizen und Mais aus. Sie laufen die Türkei, Rumänien und Südkorea an.
Als die Razoni am ersten dieses Monats als erstes Nahrungsmittelschiff seit Beginn des Angriffskrieges Odessa verliess, hatte UN-Generalsekretär Guterres zwei schlichte Worte für sie übrig, «Mais und Hoffnung». Dabei ist der Mais an Bord der «Razoni» wahrscheinlich nicht einmal für den menschlichen Verzehr gedacht: Die Behörden in Beirut, dort wo die Ladung ursprünglich hätte geleert werden sollen, sagten der Zeitung «L’Orient Today», dass der Mais für Tierfutter bestimmt sei.
Doch das weltweit wohl am strengsten überwachte Schiff wurde zu einem Gespensterschiff: Nachdem die Razoni durch die Minen in und um die ukrainischen Schwarzmeerhäfen navigiert war, hat der unbekannte Käufer die Ladung abgelehnt, da die 26'500 Tonnen Mais eine schlechte Qualität gehabt hätten. Das war in Istanbul.
Das ukrainische Landwirtschaftsministerium bestreitet diesen Vorwurf und erklärt, dass das gesamte Getreide, das aus dem Land verschifft wird, Qualitätskontrollen nach internationalen Standards unterzogen werde. Lebensmittel, die seit dem Ausbruch des Krieges in den Häfen lagerten, seien nicht verdorben.
Trotzdem: Es mussten neuen Käufer gefunden werden. Anscheinend ist das gelungen, denn 1500 Tonnen des Mais wurden noch in der Türkei entladen. Der Rest sollte wohl nach Ägypten gehen – zumindest wurde das Land am Nil als Zielhafen angegeben, wie vesselfinder.com zu entnehmen ist. Doch wer der Käufer des Getreides ist, ist nicht bekannt.
Doch auf dem Weg nach Ägypten stellte das Schiff am vergangenen Freitag seinen Transponder ab – Positions- und Routeninformationen werden aktuell also nicht mehr übermittelt. Das letzte Signal der Razoni wurde am frühen Morgen von der Nordwestküste Zyperns gesendet.
Mit dieser Praxis fällt die Razoni nicht zum ersten Mal negativ auf: Bereits 2021 hatte sie drei Reisen unternommen, während denen der Transponder um Zypern herum zuerst ab- und dann einige Tage danach wieder angeschaltet wurde, wie die «Financial Times» darlegt.
Ganz in Luft aufgelöst hat sich die Razoni aber nicht: Satellitenbilder von Planet Labs zeigen nämlich, wie die Razoni die syrischen Häfen Tartus und Latakia anläuft, während ihre Transponder ausgeschaltet sind.
Es wird vermutet, dass die Ladung in Syrien gelöscht wurde. Der Getreidehandel mit Syrien verstösst denn auch nicht gegen Sanktionen, die gegen das Regime in Damaskus wegen des lang anhaltenden Bürgerkriegs im Land verhängt wurden. Doch würden viele Schiffe das Land nicht offen anlaufen, weil Versicherungsinstitute dies vorschrieben, schreibt die «Financial Times» – wobei sich nicht herausfinden lasse, wo die Razoni versichert sei.
Ein Beamter des Kontrollzentrums in Istanbul äussert sich gegenüber der «Financial Times» zur Akte Razoni lapidar:
Die Reise der Razoni hat ein Schlaglicht auf die komplexen und undurchsichtigen Vorgänge im Rohstoffhandel geworfen, wo anonyme Käufer, Zwischenhändler, Agenten und Versicherer den Takt angeben.
Vielleicht ist es irrelevant, über welche verschlungenen und undurchsichtigen oder korrupten Pfade das ukrainische Getreide seinen Weg auf den Weltmarkt findet. Denn das Ziel der UNO ist es, die weltweite Nahrungsmittelkrise zu lindern, indem die Preise durch eine Erhöhung der ukrainischen Lieferungen gesenkt werden. Und auch der Mais der Razoni wird irgendwo auf der Welt Mägen füllen.
Der Flugbereich ist viel besser und enger kontrolliert. Aber nur die Flugis und Autos werden aus böse angesehen...